Strukturreformen in der Versorgung angehen
Kein anderes Land in Europa investiert im Verhältnis zu seiner Wirtschaftsleistung so viel in das Gesundheitswesen wie Deutschland. Auch in Bezug auf das Gesundheitspersonal und die Gesundheitsinfrastruktur besitzt Deutschland eine vergleichsweise gute Ausstattung. Eine gute Gesundheitsversorgung wird aber in Zukunft nur finanzierbar sein, wenn der stetige Anstieg der Leistungsausgaben begrenzt wird. Dafür braucht es dringend Strukturreformen in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung und Pflege, die vor allem auch die Herausforderungen der demografischen Entwicklung berücksichtigen.
Kurzfristig: Reformen der Krankenhausstrukturen und der Notfallversorgung umsetzen
Die Krankenhausstrukturreform soll laut Koalitionsvertrag mit weiteren Ausnahmeregelungen weiter aufgeweicht werden, um vor dem Hintergrund lokalpolitischer Interessen die Existenz bestehender Grundversorger im ländlichen Raum sicherzustellen. Auch die Definition der Fachkrankenhäuser soll dahingehend überarbeitet werden, den Erhalt von Fachkliniken zu ermöglichen. Somit wird ein effizienter Umbau der Krankenhauslandschaft und die ursprünglich beabsichtigte Konzentration von Leistungen bei gleichzeitiger Qualitätsverbesserung immer unwahrscheinlicher. Die Strukturreform wird zu einer reinen Finanzierungsreform entwertet.
- Die ursprüngliche Idee der Krankenhausreform, durch mehr Spezialisierung in den Kliniken eine effizientere und verbesserte Versorgung zu erreichen, muss wie geplant zeitnah umgesetzt werden. Die Konzentration von Leistungen und die Öffnung kleinerer Häuser für die ambulante Versorgung können langfristig für mehr Effizienz im Personaleinsatz und in der Finanzierung sorgen. Weitere Ausnahmeregelungen, um den Status quo zu erhalten, sind kontraproduktiv.
Schon 2024 legte die Ampel-Koalition einen Gesetzentwurf für die Notfallversorgung vor, der in Kombination mit einer Reform der Rettungsdienste umgesetzt werden sollte. Das ist ein längst überfälliger Schritt, um eine bessere Steuerung von Notfallpatienten zu erreichen und die Notaufnahmen zu entlasten. Auch im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Regierung ist die Notfall- und Rettungsdienstreform enthalten, allerdings ohne konkreten Umsetzungshorizont, obwohl konkrete Umsetzungsvorschläge schon ausgearbeitet sind.
- Die Notfall- und Rettungsdienstreform muss unmittelbar nach Amtsantritt der neuen Regierung umgesetzt werden. Eine weitere Verzögerung ist angesichts bereits vorliegender und diskutierter Gesetzentwürfe unverständlich und zögert die dringend benötigte Entlastung der Notaufnahmen und Rettungsdienste unnötig hinaus. Eine bessere Steuerung der Notfallpatienten kann zudem Über- und Fehlversorgung reduzieren und somit in absehbarer Zeit Ressourcen sparen.
Mittelfristig: Mehr Versorgungssteuerung in der ambulanten Versorgung
Der Bereich der ambulanten Versorgung ist der einzige Bereich im Koalitionsvertrag, der Ansätze von echten Reformen bietet. Hier wird ein verbindliches Primärarztsystem in Verbindung mit einer Termingarantie für gesetzlich Versicherte vorgeschlagen. Die Notwendigkeit des Bedarfs eines Facharzttermins soll demnach über Haus- und Kinderärzte gesteuert werden und eine Überweisung verpflichtend voraussetzen.
Der Ansatz der Versorgungssteuerung über ein verbindliches Primärarztsystem ist grundsätzlich ein positives Signal, birgt aber die Gefahr eines Flaschenhalsproblems, wenn die Steuerungsfunktion ausschließlich auf die ohnehin schon überlasteten Hausarztpraxen verlagert wird. Patient*innen ohne Zugang zum Hausarzt könnten wiederum die Notfallstrukturen belasten. Die Möglichkeit, Kassen in die Versorgungssteuerung einzubeziehen, wird nicht in Betracht gezogen.
- Wir unterstützen das vdek-Konzept eines „Persönlichen Ärzteteams“ für eine bessere Versorgungssteuerung. Demnach soll ein verbindliches persönliches Ärzteteam aus einem Hausarzt und bis zu drei grundversorgenden Fachärztinnen/Fachärzten mit oder ohne Überweisung angesteuert werden können. Telemedizinische Ersteinschätzungen und bei Bedarf anschließende Videosprechstunden sollen dies unterstützen.
- Außerdem sollte den Kassen eine unterstützende Lotsenfunktion ermöglicht werden. Krankenkassen begleiten Patient*innen oft über einen längeren Zeitraum als Leistungserbringer und verfügen über den nötigen Datenschatz für eine effiziente Versorgungssteuerung. So können Über-, Unter- und Fehlversorgung vermieden und mehr Effizienz in der Versorgung erreicht werden.
Langfristig: Strukturell vernetzte Prävention und Überprüfung aller Kostenblöcke
Langfristig besteht das größte Effizienzpotenzial darin, verhaltensbedingte und verhältnisbedingte Krankheiten zu vermeiden. Allein in Bezug auf ungesunde Ernährung errechnete beispielsweise die Uni Halle-Wittenberg direkte gesundheitliche Folgekosten in Höhe von jährlich 17 Milliarden Euro. Dazu kommen weitere gesamtgesellschaftliche Kosten, etwa durch Fehlzeiten, Überlastungen des Gesundheitssystems oder vorzeitige Todesfälle.
Die gesamtgesellschaftlichen Kosten von Adipositas in Deutschland wurden laut einer Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2015 auf etwa 63 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Prävention kann also erheblich zur Begrenzung von Gesundheitskosten beitragen. Neben der allgemeinen Stärkung kommunaler Präventionsangebote, der Ausweitung der U-Untersuchungen und einer besseren Unterstützung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes braucht es auch eine übergreifende Strategie, wie Prävention in allen Politikbereichen konkret verankert und umgesetzt werden kann.
Für eine umfassende und erfolgreiche Prävention von sogenannten Volkskrankheiten ist ein integrierter Ansatz notwendig, der alle relevanten Politikbereiche einbezieht und Prävention systematisch in den sozialen Kontext integriert. Hier müssen auch Bund, Länder und Kommunen in die Pflicht genommen werden.
- Kassen können als Anbieter von Gesundheitscoaching zur Unterstützung therapeutischer Maßnahmen und zur Förderung einer gesunden Lebensweise einen wichtigen Beitrag leisten, um die Inanspruchnahme von Versorgung zu verringern.
- Dafür müssen die Kassen auch langfristig die Möglichkeiten behalten, finanzielle Mittel für die Entwicklung der Gesundheitskompetenz bereitzustellen. Prävention muss ausreichend und nachhaltig finanziert werden.
Statt Kosteneinsparungen in den Blick zu nehmen, enthält der Koalitionsvertrag eine Vielzahl von kostensteigernden Maßnahmen, wie etwa die Erhöhung des Apothekenpackungsfixums, die Entbudgetierung von Fachärzt*innen und Honorarzuschläge in unterversorgten Gebieten, eingeschränkte Prüfmöglichkeiten oder die – vermutlich nicht der Kostensenkung dienende - Weiterentwicklung der AMNOG-Leitplanken. Die geplanten Ausgaben des Koalitionsvertrags übersteigen bei Weitem die einkalkulierten Einsparungen, die zudem erst in mehreren Jahren wirksam werden.
- Bevor einzelnen Zielgruppen finanzielle Zusagen gemacht werden, müssen alle Kostenblöcke in der Gesundheitsversorgung auf den Prüfstand.
- Das Ziel sollte sein, allen Versicherten, unabhängig vom gesundheitlichen und sozialen Status die medizinische notwendige Versorgung in einer hohen Qualität zu geringeren Beitragssätzen als bisher zur Verfügung zu stellen. Deshalb dürfen auch Leistungseinschränkungen kein Tabu sein, wenn sie außerhalb des medizinisch notwendigen Versorgungsspektrums zu verorten sind. Nur so kann der umlagefinanzierte und solidarische Ansatz der GKV langfristig beibehalten werden.
Fazit
Der größte Fehler, den die neue Regierung machen kann, ist nichts zu tun. Unliebsame Entscheidungen dürfen nicht erneut an langwierig tagende Arbeitsgruppen und Kommissionen ausgelagert werden, wie es in Bezug auf die GKV-Finanzierung und Reform der Pflege beabsichtigt ist. Reformvorschläge wurden zur Genüge erarbeitet. Was fehlt, ist eine Exekutive, die mutig genug ist, diese jetzt auch umzusetzen.