Gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung zukunftssicher finanzieren
Zu Beginn der 21. Legislaturperiode stellt sich die Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und sozialen Pflegeversicherung (SPV) katastrophal dar. Laut GKV-Spitzenverband hat die GKV aktuell nur noch eine Reserve von sieben Prozent einer Monatsausgabe oder – anders ausgedrückt – nur noch Rücklagen für zwei Tage. Gleichzeitig steigen die Beitragssätze auf ein Rekordniveau. Zum Jahreswechsel haben 82 der 94 gesetzlichen Krankenkassen den Zusatzbeitrag erhöht. Allein in den letzten drei Monaten gab es sechs weitere Beitragssatzerhöhungen. 2024 verzeichneten die Krankenkassen ein Defizit von mehr als sechs Milliarden Euro – bei stetig steigenden Leistungsausgaben.
Der Koalitionsvertrag erkennt die prekäre Finanzierungssituation und formuliert das Ziel einer Stabilisierung der Beitragssätze durch ein höheres Beschäftigungsniveau und einer Reduzierung der Leistungsausgaben. Mit welchen konkreten Maßnahmen das erreicht werden soll, bleibt jedoch offen. Eine Expertenkommission soll dazu bis 2027 Vorschläge erarbeiten. Dieser offene Ansatz bietet die Möglichkeit, in Zusammenarbeit mit den Akteuren des Gesundheitswesens neue Lösungsideen zu erarbeiten und vergangene Fehlentwicklungen zu korrigieren.
Es braucht kurzfristig Maßnahmen, um weitere Belastungen der gesetzlich Versicherten zu vermeiden und mittel- und langfristig konkrete Konzepte, um die GKV und SPV verlässlich und nachhaltig für die Zukunft aufzustellen.
Kurzfristig: Gerechte Steuerfinanzierung und konkret Versorgungskosten senken
Ein erheblicher Teil des Defizits der GKV resultiert aus der zunehmenden Verwendung von Beitragsgeldern für versicherungsfremde Zwecke. Laut IGES-Studie fehlten 2024 der GKV allein durch die nicht kostendeckenden Beitragspauschalen des Bundes für Bürgergeldempfänger*innen 9,2 Milliarden Euro. Investitionskosten für Krankenhäuser und Pflegeheime und laufende Ausgaben werden aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds querfinanziert.
Der Bundeszuschuss zur GKV reicht bei Weitem nicht aus, um die von der GKV getragenen versicherungsfremden Leistungen gegenzufinanzieren. Ähnlich sieht es in der Pflegeversicherung aus. 2024 verzeichnete diese ein Defizit von 1,54 Milliarden Euro. Der Pflege-Ausgleichsfonds läuft leer, einigen Pflegekassen droht die Zahlungsunfähigkeit.
Kurzfristig bedarf es einer stärkeren Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen, um weitere Beitragserhöhungen zu vermeiden:
- Dazu gehören in erster Linie kostendeckende Beiträge für Bürgergeldempfänger*innen in der GKV.
- Die pandemiebedingten Kosten in der SPV in Höhe von fast 6 Milliarden Euro müssen kurzfristig zurückgezahlt werden, um Pflegekassen vor der Zahlungsunfähigkeit zu bewahren.
- Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige müssen dauerhaft vom Bund übernommen werden.
- Positiv ist die Zusage des Koalitionsvertrags, den GKV-Anteil des Transformationsfonds zur Krankenhausreform aus dem Sondervermögen Infrastruktur zu finanzieren. Das muss jetzt auch rechtlich umgesetzt werden.
- Alle genannten Maßnahmen müssen noch vor der parlamentarischen Sommerpause im Rahmen eines Vorschaltgesetzes vor grundsätzlichen Finanzierungsreformen umgesetzt werden. Knappe GKV-Ressourcen sollten für die eigentliche Versorgung und für das Binnensystem GKV genutzt werden.
Ein wesentlicher und stetig steigender Kostenblock in der GKV sind die Arzneimittelausgaben. 2024 wurde mit 55,25 Milliarden Euro ein neuer Rekordwert erreicht. Sie betrugen somit 17,7 Prozent der Gesamtausgaben und sind der zweigrößte Kostenfaktor nach der stationären Versorgung. Ein Grund dafür ist auch, dass der Staat kräftig mitverdient. Nur drei der EU-Länder erheben den vollen Mehrwertsteuersatz auf erstattungsfähige Arzneimittel, darunter Deutschland mit 19 Prozent.
Auch im Arzneimittelbereich bedarf es eines Sofortprogramms zur Kostenbegrenzung:
- Deutschland sollte sich der Mehrheit der EU-Länder anschließen und mindestens den reduzierten Mehrwertsteuersatz, wenn nicht gar den 0-Prozent-Steuersatz auf Gesundheitsprodukte und -dienstleistungen anwenden. Bei 0 Prozent Mehrwertsteuer auf Arzneimittel könnte die GKV bei aktuellem Ausgabenniveau rund 10 Milliarden Euro einsparen. Die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten darf kein Luxusgut sein.
- Auch eine Erhöhung des allgemeinen Herstellerabschlags bietet kurzfristig ein erhebliches Effizienzpotenzial. Eine Erhöhung von 7 Prozent auf 12 Prozent reduziert die Kostenbelastung der GKV um 1,2 Milliarden Euro, eine Erhöhung auf 16 Prozent gar um rund 1,8 Milliarden Euro. Ebenfalls wirkungsvoll wäre die Entfristung des Arzneimittel-Preismoratoriums über das Jahr 2026 hinaus.
Mittelfristig: Finanzierungsgerechtigkeit zwischen den Krankenkassen verbessern
Steigende Zusatzbeiträge betreffen vor allem Kassen mit überdurchschnittlicher Morbidität und damit auch überwiegend ältere, chronisch und mehrfach erkrankte Versicherte. Bereits jetzt liegen die Zusatzbeiträge bei diesen über dem durchschnittlichen Zusatzbeitrag von 2,5 Prozent. Grund dafür ist, dass Kassen für Versicherte, die chronisch erkrankt sind und darüber hinaus eine Vielzahl von Erkrankungen aufweisen, weniger Zuweisungen aus dem RSA erhalten, als für die tatsächliche Versorgung benötigt werden. Diese Entwicklung hat sich in den letzten Jahren verschärft und führt zu einer zunehmenden Entsolidarisierung zwischen jungen, gesunden und älteren, erkrankten Versicherten. Gerade Kassen mit hohem Versorgungsbedarf geraten zusehends unter Preisdruck - der Wettbewerb um eine qualitativ hochwertige und versichertenorientierte Versorgung gerät in den Hintergrund.
- Mittelfristig muss die Finanzierungsgerechtigkeit zwischen den Kassen wiederhergestellt werden. Der Kassenwettbewerb sollte sich wieder mehr auf eine gute, am Versichertenwohl ausgerichtete Versorgung konzentrieren. Dafür muss der Risikostrukturausgleich reformiert werden. Der Wissenschaftliche Beirat zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs sollte zügig weitere Reformvorschläge entwickeln. Ziel sollte ein universelles Ausgleichsverfahren sein, welches den RSA vereinfacht und die ursprünglich angedachte Solidarität im System der GKV wieder herstellt. Ein erhöhter Versorgungsbedarf darf nicht zu Nachteilen in einem auf den Preis ausgerichteten Wettbewerbssystem führen – entsprechend gilt es, den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich auszugestalten.
Mittelfristig muss auch wieder mehr Wirtschaftlichkeit in der Versorgung ermöglicht werden. Der Koalitionsvertrag deutet leider eine entgegengesetzte Richtung an. So soll eine Bagatellgrenze von 300 Euro bei der Regressprüfung niedergelassener Ärztinnen eingeführt werden. Entsprechende Regelungen sollen auch für andere Leistungserbringer getroffen werden. Die Prüfquote bei Krankenhäusern soll erheblich gesenkt werden. Das schränkt die Prüfmöglichkeiten der Kassen unnötig weiter ein und wird zu weiteren Mehrausgaben führen. Allein das Ausschreibungsverbot für Hilfsmittel hat erheblich zu einer Ausgabensteigerung im Hilfsmittelbereich in den letzten zehn Jahren um fast 60 Prozent auf über 10 Milliarden Euro beigetragen.
Die GKV muss wieder mehr Steuerungsmöglichkeiten erhalten, um die Wirtschaftlichkeit zu verbessern:
- Dazu gehören in erster Linie die Rücknahme des Ausschreibungsverbots für Hilfsmittel und erweiterte Spielräume für Vertragsverhandlungen.
- Die Prüfmöglichkeiten der Kassen müssen grundsätzlich erhalten bleiben und bedürfen darüber hinaus einer Reform, damit wieder mehr Beitragsmittel für die Versorgung zur Verfügung stehen. Dazu gehört etwa die Abschaffung oder Vereinheitlichung der Prüfquoten oder eine einheitliche Sanktionierung fehlerhafter Abrechnungen. Im Krankenhausbereich sollten sich die Prüfergebnisse auf alle, auch auf die fallzahlunabhängigen Bestandteile der Vergütung auswirken.
Langfristig: Finanzierungsreformen GKV und SPV und Klagerecht für Kassen
Langfristig bedarf es grundlegender Finanzierungsreformen der GKV und der SPV. Hier liegt es nun an der schwarz-roten Koalition, Reformvorschläge zu erarbeiten und umzusetzen, die eine einnahmenorientierte Ausgabenpolitik in den Fokus nehmen. Bisher enthält die Einigung von Union und SPD tendenziell ausgabensteigernde Punkte, die praktisch alle Zielgruppen (unter anderem Ärzte, Krankenhäuser, Apotheken, Pharmaindustrie, Psychotherapeuten) bedienen. Und das, obwohl schon jetzt der Ausgabenanstieg stetig mit durchschnittlich fünf Prozent pro Jahr deutlich über der allgemeinen Lohnentwicklung liegt.
- Der umlagefinanzierte, solidarische Ansatz in der GKV hat sich bewährt und muss auch in Zukunft weiter Bestand haben. Dafür bedarf es grundlegender Finanzierungsreformen.
- Die Ausgaben im Gesundheitswesen müssen sich wieder mehr an den Einnahmen orientieren. Leistungseinschränkungen dürfen deshalb kein Tabu sein.
- Investitionen in die Infrastruktur der Krankenhäuser und Pflege müssen verlässlich und kostendeckend durch Steuergelder finanziert werden. Eine nachhaltige GKV-Finanzierung muss zudem unplanbare Zugriffe auf die Rücklagen der Kassen zukünftig vermeiden.
- Letztendlich muss auch darüber diskutiert werden, weitere Einkommensarten und Besserverdienende in das solidarische Versicherungssystem miteinzubeziehen, um die Einnahmenbasis an die demografische Entwicklung anzupassen.
Immer wieder werden die Finanzreserven der Kassen missbraucht, um Lücken im Bundeshaushalt zu stopfen, unzureichende Investitionen auszugleichen oder politische Projekte zu finanzieren. Jüngstes Beispiel ist die Krankenhausstrukturreform, bei der beabsichtigt wurde, den Transformationsfonds hälftig aus Beitragsgeldern zu finanzieren. Somit werden Beitragsgelder der eigentlichen Versorgung entzogen, sie werden für gesamtgesellschaftliche Ausgaben zweckentfremdet. Der eigentliche umlagefinanzierte Versicherungsansatz wird immer schwieriger zu legitimieren.
- Es ist wichtig, dass die gesetzlichen Krankenkassen die Möglichkeit erhalten, ihre Beitragsgelder vor staatlichen Eingriffen zu schützen, die gegen die bestehende Ordnungspolitik verstoßen oder verfassungswidrig sind.
- Sozialversicherungsbeiträge sollten innerhalb des Systems der Sozialversicherung verbleiben. Um diesen Grundsatz zu sichern, ist es notwendig, den rechtlichen Status der gesetzlichen Krankenversicherung zu stärken. Die Kassen sollten die Möglichkeit haben, gesetzgeberische Maßnahmen vom Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen.