People Pleasing: Wie wir Ja zum Nein sagen
Urlaub in Tansania, Afrika: Am Flughafen stellt die deutsche Touristin Ulrike Bossmann fest, dass sie eine lokale SIM-Karte braucht, um vor Ort günstig zu telefonieren und im Internet surfen zu können. Plötzlich taucht ein hilfsbereiter Mann auf und bietet ihr eine SIM-Karte an. Ein „dubioser Moment“, findet die Deutsche. Ihr Bauch sagt Nein – sie aber doch Ja. Und dann geht sie mit.
Am Ende ist es gut ausgegangen, erinnert sich die Psychologin. „Wahrscheinlich zu einem horrenderen Preis“ als im Handy-Shop, sagt sie und lacht. Doch diese Urlaubsanekdote erzählt sie nicht als private Touristin, sondern als Autorin eines aktuellen Bestseller-Buches und Gast in einem Podcast zum Thema „People Pleasing und Nein-Sagen“.
Wenn selbst einer Nein-Expertin dies nicht gelingt, wie sollen dann wir Normal-Verbraucher mehr Mut finden, öfters Ja zum Nein zu sagen? Kurzum: „People Pleasing“ zu vermeiden?
People Pleasing
Der Begriff kommt aus dem Englischen und meint, Menschen zu gefallen (to please). Seit einigen Jahren taucht er auch im deutschen Sprachraum auf, dabei ist „People Pleasing“ bereits seit Anfang der Nullerjahre gebräuchlich. Der Trendausdruck beschreibt Menschen, die Konflikte scheuen, gefallen wollen und daher nur schwer Nein sagen können.
Rund die Hälfte der US-Amerikaner hält sich für People Pleaser, hat eine Umfrage gezeigt. Sie können ja nicht alle krank sein, meint Ulrike Bossmann und definiert People Pleasing nicht als psychologische Erkrankung, sondern als erlerntes „Denk- und Verhaltensmuster“ aus der Kindheit, das uns im Erwachsenenalter nun vor die Füße fällt. Das bestätigt ebenfalls Ichiro Kishimi aus Japan, Autor des Weltbestsellers „Du musst nicht von allen gemocht werden“. Aber er gibt Hoffnung: Wir können uns von den Fesseln der Kindheit befreien. „Der Mut zum Glücklichsein beinhaltet auch den Mut, nicht gemocht zu werden.“ Wenn wir das verstanden haben, werde alles ganz leicht. Das Leben, die Begegnung mit unseren Mitmenschen, alles.
Wie erkennen wir nun bei uns selbst People Pleasing? Woher kommt der starke Wunsch, die Bedürfnisse anderer über unsere eigenen zu stellen? Was hat das für Konsequenzen für unsere körperliche und mentale Gesundheit? Und was können wir tun, um People Pleasing zu vermeiden?
Woran erkennen wir bei uns selbst People Pleasing?
People Pleaser sind oft feinfühlige und empathische Menschen. Sie wollen gemocht werden und fragen sich häufig, was andere über sie denken. Nach Meetings auf der Arbeit oder bei Treffen mit Freunden grübeln sie lange, was sie hätten anders sagen können. Konflikten gehen sie aus dem Weg – und für das Wohlergehen anderer über ihre eigenen Grenzen. Ihre Bedürfnisse können sie schlecht kommunizieren. Das würde ja bedeuten, eine Grenze zu setzen.
Da ist zum Beispiel der Abteilungsleiter, der für die „bessere Harmonie“ im Team unliebsame Aufgaben seiner Mitarbeitenden selbst erledigt und permanent Überstunden macht. Da ist der Teenager-Sohn, der im Park mit den Kumpels den harten Alkohol mittrinkt, weil er ja nicht die „Spaßbremse“ sein möchte. Da ist die Ehefrau, die jahrelang Schlafprobleme hat, weil sie ihrem Mann einfach nicht sagen kann, dass sein Schnarchen ihr den Schlaf raubt. Und beim Spagat zwischen Kind und Karriere bewegen sich People Pleaser permanent in der Falle, es allen recht machen zu wollen. Mit gefährlichen gesundheitlichen Folgen.
Was bedeutet People Pleasing für unsere Gesundheit?
Wer permanent seine eigenen Bedürfnisse missachtet, verausgabt sich und fühlt sich irgendwann erschöpft „wie im Hamsterrad“, berichtet Ulrike Bossmann aus ihren Therapie- und Coachingsitzungen. Das führe zu Stress, mentaler Überforderung und erhöhe das Risiko für ein Burnout, eine Depression und für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Ein Grund, warum wir als Krankenkasse dieses Thema hier behandeln. Im Fall des Teenager-Sohnes kann sogar ein Alkohol- und Abhängigkeitsproblem hinzukommen, wenn er nicht auf seine eigenen Grenzen achtet. Zum Thema Alkohol und Suchtprävention bietet die KKH ein breites Angebot, etwa die Broschüre für Jugendliche „Alkohol? Kenn dein Limit“ an.
Überdies leiden die Beziehungen von People Pleasern. „Sie sagen nicht, was sie belastet, was sie brauchen oder frustriert.“ Das nervt die Partnerin oder den Partner, die sich mehr Ecken und Kanten wünschen. Ein Beispiel ist der bekannte Dialog nach Feierabend: „Was möchtest du essen? – „Egal, ich nehm das, was du willst.“ Oder im Urlaub: „Was willst du unternehmen?“ – „Ach, entscheide du.“ Am Ende verlieren sich People Pleaser dabei selbst. Sie wissen nicht mehr, was ihre eigenen Bedürfnisse, Werte und Ziele sind. Es folgen Sinnkrise, Midlife-Crisis und Lebensende-Loch.
Woher kommt People Pleasing?
Es ist kein Zufall, dass eine Frau und ein Japaner bedeutende Bestseller zum Nein-Sagen geschrieben haben. Die deutliche Mehrheit der Ratgeber-Literatur zum Thema kommt von Autorinnen. Frauen fällt es schwerer als Männern, Nein zu sagen. Eltern erziehen Mädchen eher in die weiche Kümmerinnen-Rolle. Sei angepasst, freundlich, nachsichtig. Trage das Blümchenkleid und die Schleife im Haar. Auch in der japanischen Kultur gilt ein Nein als sehr unhöflich. Werte wie Harmonie, Gruppen-Zugehörigkeit und Respekt vor Autoritäten machen es Japanern schier unmöglich, ein Nein über die Lippen zu kriegen. Die Wurzeln liegen also in unserer Kultur und Kindheit. Wir wollen dazugehören, wir wollen gemocht werden. Neuro-Wissenschaftler haben mittels Probanden-Tests im MRT herausgefunden, dass die Angst vor Ablehnung dieselben Hirnregionen anregt wie körperlicher Schmerz.
In den Therapie- und Coachingsitzungen von Ulrike Bossmann berichten Klientinnen und Klienten immer wieder von ähnlichen Erlebnissen, die den fatalen Gedanken eingepflanzt haben: „Wenn ich mich zeige, wie ich bin, störe ich. Damit mich andere liebhaben, muss ich mich anpassen.“ Das sind die Eltern-Sätze, die Mädchen mitgeben, nicht „so zickig zu sein“, wenn sie mal aufbegehren. Oder den Jungs, die sich das Knie aufgeschürft haben, nicht zu gefühlsduselig zu sein. „Stell dich nicht so an, so schlimm war es ja gar nicht.“ Das sind aber auch die Gleichaltrigen und Mobbing-Erfahrungen in der Schule, die dann das Muster verfestigen: „Wenn ich mich zeige, wie ich bin, werde ich gehänselt. Dann bleibe ich besser unsichtbar!“
Wie wir aus der People-Pleasing-Falle kommen, schildern wir in unseren Fakten-Snacks. Dass es sich lohnt, hat der Japaner Ichiro Kishimi in seinem Weltbestseller herausgestellt. Sein Tenor: Unsere Vergangenheit muss unserer Zukunft nicht im Wege stehen. Wir haben als Erwachsene die Freiheit, unser Leben unabhängig von unseren Erfahrungen und Traumata zu gestalten. Wir müssen die Abhängigkeit von der Bestätigung durch andere ablegen und uns stattdessen auf unsere eigenen Werte und Ziele fokussieren. Leichter gesagt als getan. Da braucht so mancher ein ganzes Leben für.
Ulrike Bossmann empfiehlt Menschen, die zu People Pleasing neigen, kleinschrittig vorzugehen – und sich am Ende immer ein Stück Freundlichkeit zu bewahren. „Wir brauchen eine Welt voll freundlicher, hilfsbereiter und empathischer Menschen. Und das eher mehr als weniger. Es sollte aber nie auf Kosten von uns selbst gehen.“
Sie liebt daher den Satz „Wer lebt, stört.“ Da stecke so viel Gutes drin für Menschen mit Nein-Schwäche: Ich kann es nie allen recht machen. Ich darf so sein, wie ich bin. So ist am Ende ein Nein zu anderen eigentlich ein Ja: zu uns selbst.
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