Mediensucht: Wenn das Smartphone stets dazwischenfunkt
Ein Badesee diesen Sommer in Schleswig-Holstein. Eine Achtjährige traut sich in den Schwimmerbereich – und damit zu viel zu. Nach ein paar Minuten ist das Mädchen erschöpft und droht zu ertrinken. Eine Rettungsschwimmerin eilt zur Hilfe. Und die Mutter? Bekommt von all dem nichts mit, weil sie am Ufer mit ihrem Handy beschäftigt war. Auf Pausenhöfen schauen Schulkinder aufs Smartphone, statt sich mit Gleichaltrigen auszutauschen. Fußgängerinnen und Fußgänger scheinen nur noch aufs Smartphone zu starren. In den USA stürzen Menschen von Klippen, weil sie von ihrem Handy abgelenkt waren.
Alles Beispiele, die zeigen: Das Smartphone zieht uns immer mehr in den Bann. Fachleuchte sprechen mittlerweile von Mediensucht. 2.617 Mal sollen wir es angeblich täglich berühren. Jony Ive, einer der Chefdesigner von Apple, der maßgeblich das erste iPhone von 2007 mitdesignt hat, bedauert heute, dass das Display so negative Auswirkungen auf die Menschen hat. Dazu gehören das permanente Draufstarren, der Verlust von Privatsphäre und „Phubbing“.
Phubbing
Der Begriff ist ein Kunstwort aus „Phone“ (Telefon) und „Snubbing“ (jemanden vor den Kopf stoßen). Erfunden hat ihn 2012 eine australische Werbeagentur, um auf das Verhalten aufmerksam zu machen, dass Menschen mit der permanenten Nutzung ihres Smartphones ihre Mitmenschen ignorieren und damit vor den Kopf stoßen. Daraus entstand die Kampagne „Stop Phubbing“.
Zur Kampagne „Stop Phubbing“Wie können wir uns selbst und unseren Freunden wieder mehr Aufmerksamkeit geben? Wie gehen Eltern damit um, wenn ihre Kinder permanent am Smartphone kleben? Und wie vermeiden wir, dass das Handy sogar in unsere Partnerschaft stets dazwischenfunkt? Das behandeln wir in diesem Artikel und geben in unseren Fakten-Snacks Tipps, wie Sie in Ihrer Freizeit das Smartphone bewusst weglegen können.
Ergänzend stellen wir in den Meldungen konkrete Angebote der KKH zur Medienerziehung für Kinder vor. Denn mit zunehmenden Medienkonsum steigt auch der Anteil mit diagnostizierten Sprach- und Sprechstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Bundesweit sind mittlerweile 8,6 Prozent der Heranwachsenden betroffen. Die virtuelle Kommunikation kann die direkten Zwiegespräche nicht ersetzen. Die Folge: Probleme bei der Laut- und Satzbildung, ein begrenztes Vokabular und Grammatikschwächen. Jungs sind deutlich stärker als Mädchen betroffen.
Mediensucht für uns selbst und mit Freunden einschränken
„Wir alle haben schon einmal den Moment erlebt, wenn wir mit Freunden unterwegs sind, dass die ihre Handys zücken und man auf einmal weniger interessant ist als das, was sie auf ihren Handys lesen“, sagt der Australier Alex Haigh, der besagte Stopp-Phubbing-Kampagne ins Leben gerufen hat. Ein Phänomen, das auch Restaurants in Europa erkannt und dafür kreative Lösungen entwickelt haben. Im italienischen Verona spendiert ein Wirt allen Gästen eine Flasche Wein, wenn diese ihr Handy am Eingang abgeben. „Es gibt keinen Grund, alle fünf Sekunden auf das Handy zu schauen“, findet Wirt Angelo Lella. „Seit zehn Jahren wird es immer schlimmer“, bestätigt auch der Wirt Vittorio Turco aus Münster. „Eltern unterhalten sich nicht mehr mit ihren Kindern, weil sowohl sie als auch die Kinder dauerhaft am Handy hängen.“ Das habe auch Auswirkungen auf die Servicekräfte, die gar nicht mehr bemerkt werden würden. Seitdem er die Handys seiner Gäste in einer Schublade hinter der Theke verstaut, blühen die Tischgespräche wieder auf. Und nicht nur das: Auch das Essen werde wieder mehr genossen, weil tatsächlich sinnlich erlebt.
Das Handy bewusst wegschließen: ein extremes Szenario, das auch der Student Freddy empfiehlt. In diversen Videos auf YouTube berichtet er offen von seiner Mediensucht – und wie er von ihr losgekommen ist. „Wir haben ein Gerät in unserer Tasche, was praktisch dafür gemacht ist, uns einzusaugen, und in diesen unendlichen Bildschirm zu schauen.“ Und plötzlich sind vier Stunden Lebenszeit weg. Seine wichtigsten Tipps als Betroffener und die Tipps von Expertenstimmen hier zusammengefasst:
- Smartphone durch ein Tastenhandy ersetzen: „Es macht einfach keinen Spaß damit, auf Instagram zu gehen und ewig lange Nachrichten zu tippen, geschweige denn den Feed durchzuscrollen“, berichtet Freddy. Aber man sei erreichbar und könne navigieren.
- Bestandsaufnahme machen, empfiehlt die Internetseite Stopphubbing. Reflektieren Sie Ihr Smartphone-Verhalten und identifizieren Sie die Situationen, in denen Sie am ehesten zum Handy greifen.
- Das Handy vor der Haustür ausschalten: Die meisten Menschen kommen von der Arbeit todmüde nach Hause, schmeißen sich aufs Sofa – und greifen zum Handy. Genau dieses Muster könne man so vermeiden und stattdessen Gitarre üben, ein Buch lesen oder Sport machen.
- Umfeld einspannen: Bitten Sie Freunde und Familienangehörige Sie darauf hinzuweisen, wenn Sie das Handy zu viel benutzen.
- Benachrichtigungen ausschalten: Deaktivieren Sie die Push-Benachrichtigungen oder aktivieren Sie den „Nicht stören“-Modus für bewusste handyfreie Zeiten.
Und wenn dies alles nicht hilft, hat Freddy als letztes Mittel sein Smartphone in einen Handytresor mit Zeitschaltuhr gelegt. „Das hat mir unwahrscheinlich viel mentale Last vom Kopf weggenommen.“
Wie Eltern Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen einschränken
212 Minuten verbringen Teenager und junge Erwachsene laut Studien von ARD, ZDF sowie vom Verband Bitkom durchschnittlich täglich am Smartphone. Das sind mehr als dreieinhalb Stunden. Heutige Eltern müssen sich bewusst machen, dass eine Generation heranwächst, die ein Leben ohne Smartphone gar nicht mehr kennt. Das unterscheidet sie maßgeblich von einer Elterngeneration, die noch mit Bravo und Peter Lustig aufgewachsen ist. Parallel hat auch die politische Diskussion Fahrt aufgenommen, die private Nutzung von Smartphone an Grundschulen zu verbieten. Doch stattdessen empfehlen, Pädagoginnen und Pädagogen, dass Eltern ihre Kinder bewusst ans Handy heranführen und über einen verantwortungsvollen Medienkonsum aufklären.
So zum Beispiel die Bestseller-Autorinnen Leonie Lutz und Mareike Brede in ihrem Buch „Erste Hilfe für die Smartphone-Pubertät“. Eltern müssen „begreifen, dass die digitale Lebenswelt einen wichtigen Stellenwert für Teenies hat und nicht klar von der analogen Welt getrennt existiert“, sagen die Autorinnen und raten Eltern deshalb: „Immer am Ball bleiben, immer wieder versuchen und auf die Teenies zugehen. Dieser begleitende Ansatz ist wichtig. Nicht alles verteufeln, sondern aufklären.“ Es gehe tatsächlich nicht anders als über den Dialog zu gehen, wissen die Autorinnen, die selbst Mütter sind. Warum zockst du länger als wir vereinbart hatten? Warum bist du so lang auf TikTok und Instagram unterwegs? Das empfiehlt ebenfalls die Informationsseite Gutes Aufwachsen mit Medien der öffentlich geförderten Stiftung „Digitale Chancen“. Hier die fünf wichtigsten Tipps:
- Offene Kommunikation und gemeinsame Regeln: Legen Sie klare Regeln für die Smartphone-Nutzung gemeinsam mit den Kindern fest. Gehen Sie dabei auch auf die Wünsche und Bedenken der Kinder ein. Ohne Vorwurf.
- Begleiten Sie Kinder bei der Mediennutzung. Lassen Sie Ihre Kinder nicht allein und erklären Sie, wie diese Risiken erkennen und kritisch mit digitalen Inhalten umgehen, zum Beispiel Fake News erkennen und ihre Privatsphäre schützen.
- Zeitlimits setzen: So empfehlen Expertinnen und Experten folgende Zeiten:
Für 3- bis 6-Jährige: maximal 30 Minuten gemeinsame Nutzung
Für 6- bis 10-Jährige: maximal 60 Minuten pro Tag
Für 11- bis 13-Jährige: circa 60 Minuten, mit Verhandlungsspielraum
- Handyfreie Zeiten und Zonen einführen: Beispielsweise können am Esstisch oder bei Sonntagsausflügen Handys für alle Familienmitglieder Funkstille haben.
- Sensibel bleiben und auf Warnsignale achten: Heute vergleichen Teenager ihren Körper nicht mehr nur mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern – sondern mit dem gesamten Internet. „Die Pubertät hat sich dadurch fundamental geändert.“ Selbstfindung, Abgrenzung, Körperakzeptanz werden noch mal zur größeren Herausforderung. Umso wichtiger sind aufmerksame Eltern, die im richtigen Moment zur Stelle sind. Zum Beispiel bei Sucht, Cybermobbing oder Cybergrooming (sexuelle Belästigung in Onlinespielen).
Und was bei allen Tipps immer mit eine Rolle spielt: die Vorbildfunktion. Eltern sollten mit gutem Beispiel vorangehen und ihre eigene Smartphone-Nutzung reflektieren. Wie will man es dem Sohn verbieten, wenn man selbst permanent am Handy klebt?
Mediensucht in der Partnerschaft: „Ich bin mit einem Smartphone verheiratet!“
Ob beim Mittagessen, abends vor dem Fernseher oder sogar im Bett: Fast jeder zweite Befragte hat bei einer Studie der Baylor Universität Texas angegeben, sich vernachlässigt zu fühlen, weil der Partner das Smartphone mehr berührt als den Lieblingsmenschen. „Ich bin mit einem Smartphone verheiratet“, schießt als Gedanke durch den Kopf. Das kann zu Frust führen, zu Misstrauen und sogar – nachgewiesen durch Studien – zu schlechterem Sex. Das Handy als Libido-Killer.
Noch sind sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unklar über das Henne-Ei-Prinzip: Hat der Mangel an Nähe die übertriebene Handysucht ausgelöst oder umgekehrt? In beiden Fällen hilft das gemeinsame Gespräch, rät Professorin Anne Milek der Universität Witten-Herdecke, die das Phubbing als Beziehungsphänomen in Deutschland ausführlich untersucht. „Auf jeden Fall ist es sinnvoll, darüber zu reden. Und das idealerweise nicht, wenn es einen stört, sondern in einer ruhigen Minute, in der man ganz sachlich darüber sprechen kann.“ Welche Tipps sie und andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geben:
- Handyfreie Zonen und Zeiten helfen Paaren, verlorene Intimität wieder herzustellen. Mindestens die gemeinsamen Mahlzeiten sollten handyfrei sein, um wieder in den Austausch zu kommen.
- Für brenzlige Situationen: Führen Sie ein Codewort ein, um auf die störende Handynutzung aufmerksam zu machen. Dieses ist ein klares Signal, das Gerät wegzulegen.
- Offenheit pflegen: Sprechen Sie alle Gefühle und Bedürfnisse stets offen an, dazu zählt auch, wenn Sie sich durch die Handynutzung gestört fühlen.
- Machen Sie als Paar bewusst Aktivitäten ohne Smartphone. Tipps hierzu in unseren Fakten-Snacks.
- Schritt für Schritt: Seien Sie geduldig mit sich und Ihrem Partner, neue Gewohnheiten zu etablieren. „Digital Detox“ geht nicht von heute auf morgen. Es beginnt damit, seine Gewohnheiten zu erkennen. Dann Kleinigkeiten zu ändern. Und dann am Ball zu bleiben. Fehlschläge gehören dazu.
Sven Lindbergh, Leiter der Klinischen Entwicklungspsychologie an der Universität Paderborn, sagt, dass sich Selbstkontrolle nur Schritt für Schritt entwickelt. „Gerade Menschen mit schwächerer Selbstkontrolle profitieren davon, Regeln zu entwickeln, die zu ihrem Alltag passen und die sie einhalten können.“ Die gute Nachricht: „Alles, was man sechs Wochen konsequent durchhält, kann zur Routine werden.“ Heißt also: Sechs Wochen durchhalten – dann klappt es auch wieder mit der Intimität in der Beziehung. Und dem besseren Sex.
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