Hochsensibilität verstehen – und als Stärke leben
Sind wir alle nach der Zeit der Lockdowns in der Corona-Pandemie sensibler auf Menschenmengen, grelle Lichter und laute Geräusche geworden? Was ist Hochsensibilität und wie erkennen wir sie? In unserem Hauptartikel zeigen wir Ihnen, was wir von hochsensiblen Menschen dabei lernen können.
Ein Supermarkt im nordrhein-westfälischen Bielefeld an einem Dienstagnachmittag. Ab 13 Uhr wird auf einen Schlag das Licht dunkler, die Hintergrundmusik verstummt und das Personal hört auf, neue Ware in die Regale zu räumen. Was wie ein plötzlicher Stromausfall wirkt, ist bewusst ausgelöst worden: „Silent Shopping“ (stilles Einkaufen) nennt der Supermarkt sein Konzept, das Menschen mit Hochsensibilität und Menschen mit Autismus das Einkaufen angenehmer gestalten soll.
Keine lauten Durchsagen, kein grelles Neonlicht, kein Slalomfahren um geöffnete Paletten in den Gängen. Die Aktion kommt so gut an, dass sogar nicht von Hochsensibilität Betroffene ihre Einkäufe in diese zwei Stunden werktags verlagern. Und auch andere Supermärkte in ganz Deutschland die „Stille Stunde“ anbieten. Endlich mal Ruhe!
Sind wir alle nach der Zeit der Lockdowns in der Corona-Pandemie sensibler auf Menschenmengen, grelle Lichter und laute Geräusche geworden? Was ist Hochsensibilität und wie erkennen wir sie? So viel vorweg: Es ist keine Krankheit. Darauf legen Betroffene höchsten Wert. Und was können wir Nicht-Betroffene von Menschen mit Hochsensibilität lernen? Auch gleich hier: Dieser Perspektivwechsel lohnt sich sehr.
Hochsensibilität
Wissenschaftliche Studien sagen, dass etwa 15 bis 20 Prozent der Menschen hochsensibel sind. Diese Bandbreite hat sich unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern weltweit durchgesetzt. Es gibt keine Belege dafür, dass Hochsensibilität seit der Lockdown-Zeit in der Corona-Pandemie zugenommen hat. Vielmehr ist Hochsensibilität eine angeborene Eigenschaft (keine Krankheit) und bleibt ein Leben lang.
Woran erkenne ich Hochsensibilität bei mir und bei anderen?
Die Bevölkerung unterteilt sich in hochsensible, normal sensible und weniger sensible Menschen. Ob Sie hochsensibel sind, können Sie in einem Online-Test mit rund ein Dutzend Fragen ermitteln, den zum Beispiel Fachzeitschriften wie Psychologie heute anbieten. Laut der Psychologin, Sandra Konrad, die in Deutschland als Expertin für das Thema gilt, ist es keine Störung oder Krankheit, sondern eine „Besonderheit der Reizverarbeitung“. Es gebe vier Kennzeichen, die für Hochsensibilität sprechen: eine erhöhte Reaktion auf sensorische und psychische Reize, eine stärkere Verarbeitung von Informationen und infolgedessen eine Vermeidung von bestimmten Verhaltensweisen und später sogar Rückzugtendenzen. „Diese Menschen sind leichter reizüberflutet und benötigen mehr Phasen, in denen sie sich zurückziehen können, um diese Eindrücke zu verarbeiten.“
Betroffene berichten, dass sie viel mehr Reize aus der Umwelt wahrnehmen als Nicht-Betroffene - und alle gleichzeitig auf sie einprasseln. „Es ist, als nähme ich meine Umwelt durch einen Verstärker wahr“, berichtet zum Beispiel der Pädagoge und Musiker Crischa Wagner. Er analysiere bei seinem Gegenüber alles, mache sich unzählige Gedanken und achte sehr darauf, „wie jemand spricht, welche Worte er wählt und was ich spüre.“ Für Wagner ist Hochsensibilität daher „Fluch und Segen zugleich“.
Die Betroffene Kristina Steinhauer erzählt, dass sie sogar das Etikett eines Pullovers im Nacken stört. Fein säuberlich müsse sie jedes Etikett von einem neuen Kleidungsstück vor dem ersten Tragen abtrennen. „Sonst geht es einfach nicht, das ist wie ein Schmerz.“ Steinhauer hat zusammen mit ihrem Bruder Andre Steinhauer ein Buch geschrieben. Beide sind von Geburt an hochsensibel. Beide haben ein Leben lang darunter gelitten, ständig ein „zu viel“ zu spüren. Und daher auch für ihre Umwelt ein „zu viel“ zu sein. Dabei findet Kristina Steinhauer, dass Hochsensibilität eine Gabe ist und hat ihr Buch daher auch so genannt. Auch für Eltern gibt es darin Tipps, wie sie die Hochsensibilität ihres Kindes erkennen können. Andere Bücher gehen sogar so weit, dass Hochsensibilität das „neue Stark“ sei. Was ist da dran?
Was andere von hochsensiblen Menschen lernen können
Von hochsensiblen Menschen können wir viel lernen und inspirierende Eigenschaften übernehmen, die sowohl im persönlichen als auch im beruflichen Leben bereichernd sein können. Durch diese Eigenschaften können Menschen ihre Wahrnehmung schärfen, ihre sozialen Fähigkeiten verbessern und bewusster mit ihrer Umwelt umgehen. Hochsensible bieten somit wertvolle Impulse für ein achtsameres und empathischeres Leben.
- Empathie und soziale Kompetenz: Hochsensible Menschen sind oft sehr empathisch und können die Gefühle und Stimmungen anderer intuitiv erfassen. Dies fördert tiefere und harmonischere Beziehungen.
- Tiefgründigkeit und Reflexion: Hochsensible denken oft länger und intensiver über Dinge nach. Diese Fähigkeit zur Reflexion kann zu durchdachteren Entscheidungen und kreativen Lösungsansätzen führen.
- Feine Wahrnehmung und Detail-Orientierung: Hochsensible Menschen bemerken kleinste Nuancen in ihrer Umgebung. Sei es in Kunst, Natur oder zwischenmenschlichen Interaktionen. Diese Detailwahrnehmung kann in vielen Bereichen von Vorteil sein.
- Intuition: Hochsensible verfügen oft über eine starke Intuition, die ihnen hilft, kluge Entscheidungen zu treffen. Sich auf die eigene Intuition zu verlassen, kann für jeden wertvoll sein.
- Gerechtigkeitssinn und Zivilcourage: Hochsensible Menschen haben oft ein starkes Bedürfnis nach Fairness und Harmonie und setzen sich für Gerechtigkeit ein.
- Kreativität: Viele Hochsensible sind kreativ und nutzen ihre Ruhezeiten für musische, literarische oder künstlerische Tätigkeiten. Kreativität kann helfen, neue Perspektiven zu entwickeln und Herausforderungen zu meistern.
- Achtsamkeit: Hochsensible nehmen ihre Umgebung bewusster wahr und leben oft achtsamer. Dies kann helfen, Stress zu reduzieren und das Leben intensiver zu genießen.
Umso überraschender ist, dass viele Hochsensible wegen ihrer Besonderheiten stigmatisiert und eher geringgeschätzt werden. Die Betroffenen erleben das als kränkend und infolgedessen als seelische Belastung, berichtet Expertin Sandra Konrad und appelliert dafür, mit hochsensiblen Menschen in unserer Gesellschaft anders umzugehen. Anders heißt: anerkennend, verständnisvoll und respektvoll.
Was sich nach Corona und Lockdowns doch verändert hat
Nach der Corona-Pandemie hat sich zwar die Zahl der hochsensiblen Menschen nicht erhöht – aber Studien zeigen durchaus, dass die Lockdowns die psychische Gesundheit vieler Menschen beeinflusst hat. Faktoren wie soziale Isolation, Unsicherheit und die plötzlich radikal veränderten Lebensumstände haben dazu geführt, dass viele Menschen die Rückkehr zu den „alten Bedingungen“ als belastender wahrnehmen. Übervolle öffentliche Verkehrsmittel, Mittagspausen mit vielen Kolleginnen und Kollegen an einem Tisch, das Geschiebe und Gedränge beim Wochenendeinkauf.
Es ist, als habe jemand durch Corona die Stopp-Taste gedrückt und unseren schnelllebigen Alltag angehalten. Nicht wenige haben dies als Anlass genommen, so manches Selbstverständliche zu hinterfragen und ihr Verhalten zu ändern. „In unserer Kommunikationsgesellschaft sind wir alle vernetzt, immerzu“, sagt der hochsensible Crischa Wagner. „Wir müssen aufpassen, nicht erdrückt zu werden von alledem, was auf uns einprasselt.“ Seine individuelle Lösung scheint gut übertragbar auf viele Menschen, die den schnell wieder hochgefahrenen Alltag nun als belastend empfinden. „Sich auch mal herauszuziehen aus der Kommunikation im außen und sich nach innen richten, schützt mich.“
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