Wunderpille Selbstliebe: Sich selbst der beste Freund sein
Lieben Sie sich selbst? Die Mehrheit der Deutschen antwortet auf diese Frage aktuell: Nein. Und damit sind wir nicht allein. Rund um den Globus, von den USA über Europa bis Asien, fühlt sich einer von zwei Menschen in Industrienationen unwohl in seiner Haut. Besonders betroffen: Jüngere, Frauen und Minderheiten. Wie kann das sein, wo doch „Selbstliebe“ in den Sozialen Netzwerken millionenfach ein Thema ist? Wo jährlich dutzende neue Ratgeber erscheinen, die uns mehr Selbstliebe und Authentizität versprechen? Müssten wir da nicht vor Selbstliebe förmlich strotzen?
Selbstliebe
Selbstliebe, Selbstmitgefühl und Selbstakzeptanz beschreiben die Fähigkeit, sich vollständig anzunehmen – mit allen Schwächen, Fehlern und Unvollkommenheiten. Sprich: sich nicht übermäßig zu kritisieren oder zu verurteilen und damit abzuwerten. Als Ergebnis wartet ein erfülltes Leben mit sich selbst. Das stärkt ebenfalls unsere Beziehungen: Wer sich selbst liebt und respektiert, kann auch gegenüber anderen authentischer auftreten und empathischer sein.
Selbstliebe sei auch ein großes Wort, meint die Bestseller-Autorin Stefanie Stahl. Realistischer findet die Psychologin, wenn man sich „ganz okay“ findet. Aber auch dieses „Ganz okay“-Sein ist bei den meisten Deutschen wenig ausgeprägt. Warum sind wir so hart zu uns selbst? Welche Auswirkungen hat dies auf unsere Psyche? So viel gleich vorweg: Durch mangelnde Selbstliebe steigt laut Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Gefahr für Erkrankungen wie Übergewicht, Alkoholismus und sogar Depressionen. Und wie kann uns mehr Liebe zu uns selbst sowie ein authentischeres Verhalten helfen, mit Herausforderungen, Stress und Krisen besser umzugehen? Auch das hat die Wissenschaft nachgewiesen.
Selbstliebe-Training als Offenbarung für die Psyche
Eine „Offenbarung“ nennt Jörg Mangold, ärztlicher Psychotherapeut, das Selbstliebe-Training. Gerade Ärztinnen und Psychotherapeuten leider unter beruflichem Stress. Helfende Berufe sind mit hohen Anforderungen, Stress und Leid konfrontiert. „Der eigene Selbstwert wird oft hintenangestellt“, sagt Jörg Mangold. Die Folge: ein hohes Risiko für Burn-out und eine höhere Suizidrate. Also machte er ein Selbstliebe-Training nach der US-Amerikanerin Kristin Neff.
Ihr Name fällt immer wieder, wenn es um Selbstliebe geht. Die texanische Psychologie-Professorin war eine der ersten, die den Begriff prägten. Sie selbst spricht von Selbstmitgefühl (self-compassion). Damit meint sie: Wir müssen uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst wieder der beste Freund werden. So der Untertitel ihres Buch-Klassikers.
Warum wir so hart zu uns selbst sind, liegt in unseren Genen und in unserer Kindheit. Es gibt Menschen, die von Geburt an mehr Selbstliebe besitzen als andere. Männern fällt es insgesamt leichter als Frauen. Sie haben als Kind eher gelernt, dass ihre Bedürfnisse befriedigt werden. Werden Bedürfnisse aber an Bedingungen geknüpft, lernen Kinder, dass ihr Selbstwert von ihrer Leistung abhängt. Du bist okay, wenn du gute Noten nach Hause bringst, wenn du im Haushalt mithilfst, wenn du lieb und artig bist. Tust du all dies nicht, bist du nicht okay. Neff fand mit ihrem Forschungsteam sogar heraus, dass die Selbstliebe direkt an den Flucht- und Verteidigungsinstinkt unseres Gehirns anknüpft: „Wenn wir heute Fehler machen oder in schwierige Situationen geraten, fühlt sich das für unser Gehirn wie eine Bedrohung an. Unser Kampfmodus richtet sich dann nicht mehr gegen äußere Feinde, sondern gegen uns selbst.“
Die innere Stimme als unser ständiger Kritiker
So wird unsere innere Stimme zu unserem größten Kritiker. „Warum bist du so blöd?“, „Das hätte man doch ahnen können!“, „Nie machst du etwas richtig!“ 12.000 bis 60.000 Gedanken sollen wir laut einer Studie der National Science Foundation pro Tag haben – 80 Prozent davon seien negative. Unsere innere Stimme putzt uns zuweilen so runter wie ein wütender Chef seinen angeblich nichtsnutzigen Mitarbeiter. Dabei sollten wir zu uns selbst genauso milde wie zu unseren engsten Freunden sein. Geht es ihnen schlecht, brüllen wir sie ja auch nicht nieder, sondern päppeln sie mit sanften Worten und Mitgefühl auf.
Unsere Gesellschaft tut ihr Übriges, dass es um die Selbstliebe schlecht steht. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Durch die Sozialen Netzwerke, Hochglanz-Magazine und Werbespots der Beauty-Industrie müssen wir uns zudem beständig mit perfekt inszenierten Bildern vergleichen. Auch das vorweg, bevor wir in unseren Fakten-Snacks Tipps zu mehr Selbstliebe geben: Der ständige Vergleich ist der Selbstliebe ihr Tod. Perfektionismus bis ins Detail ebenfalls. Stattdessen sollten wir uns gegenüber unsere Macken verzeihen und all unsere Gefühle ehrlich annehmen. Dieses authentische Selbst können wir im nächsten Schritt dann selbstbewusster nach außen tragen. Die Botschaft der Selbstliebe-Forschung: Alle Gefühle sind erlaubt – und wir sind so okay, wie wir sind.
Erkenne dich selbst und zeige dich so nach außen, lehrt bereits seit Jahrtausenden der Buddhismus, den Kristin Neff auf ihrer beruflichen und privaten Reise zu mehr Selbstgenügsamkeit entdeckt hat. Ob der fernöstliche Dalai Lama oder die US-amerikanische Drag Queen RuPaul – sie alle haben in harten Lebensjahren die Erkenntnis gewonnen: Liebe dich selbst – dann kannst du auch deine anderen mehr und besser lieben. Die moderne Wissenschaft bestätigt: Mehr Selbstliebe führt tatsächlich zu besseren Beziehungen mit unseren Mitmenschen.
Selbstliebe als Lebensaufgabe in täglichen Schritten
Der Weg dahin ist nicht in einem Acht-Wochen-Training getan, sondern eine Lebensaufgabe in täglich kleinen Schritten. Er erfordert die Bereitschaft, an sich zu arbeiten. Reinhorchen. Erkennen. Ehrlich sein. Sich ernstnehmen. Geduld. Mut. Am Ende wartet ein Leben in Harmonie mit einen starken inneren Selbst, das man auch ausstrahlt. Wer mit sich selbst befreundet ist, kann Belastungen besser standhalten und ist weniger anfällig für äußere Bewertungen. Eine feste Burg.
Psychotherapeut Jörg Mangold hat für sich entschieden, Selbstliebe als Prävention für die Zukunft zu sehen: Nicht nur die Beziehungen wurden bei ihm besser, auch die Lebensweise wurde gesünder und die Haltung zur Arbeit wohlwollender. Das seelische Wohlbefinden nahm zu, die Angst ab. Welches Medikament vermag dies alles zu leisten? Selbstliebe – wahrlich eine Wunderpille.
Noch nicht gefunden, wonach Sie suchen?