Die Kunst, nicht perfekt zu sein
Der perfekte Alltag. Alles läuft exakt, wie wir geplant haben. Pünktlich aufstehen, entspannt frühstücken. Alle kleineren Familienmitglieder sind pünktlich und glücklich in Kita oder Schule. Im Meeting erhält unsere Idee den größten Zuspruch. Nach dem Job einkaufen. Ein gesundes gemeinsames Abendbrot. Abends noch kurz zum Sport. Knapper Sieg im Tennismatch mit der besten Freundin. Alles ganz easy.
Ein Tag wie gemalt. Nur: Wie viele unsere Tage verlaufen tatsächlich so? Normalerweise beginnen die kleinen und großen Herausforderungen schon kurz nach dem Aufstehen. Und beschäftigen uns bis weit nach dem Feierabend. Bis wir erschöpft auf die Couch sinken – und uns ärgern, was alles nicht so funktioniert hat. Das Problem: Wir hätten es gern perfekt. Im Job. In der Partnerschaft. Beim Sport. Überall Bestnoten bitte. Andere schaffen es doch auch. Ein Blick aufs Smartphone genügt. Alles scheint kinderleicht.
„That girl“-Videos als Vorbild – oder doch nicht
Kurz vor fünf Uhr klingelt der Wecker. Gut gelaunt schlüpfen echte „That girls“ aus dem Bett und in die pastellfarbenen Yoga-Klamotten. Nach dem Sport kurz meditieren. Dann Skincare. Zum Frühstück Zitronenwasser und eine gesunde Powerbowl. Natürlich Low Carb, vegan und mit vielen sekundären Pflanzenstoffen. So vorbereitet, gelingt um acht Uhr der bessere Start in den Business-Alltag. Videos dieser inszenierten Tagesroutinen gibt es unzählige Male auf Social-Media-Plattformen. Die Botschaft: Optimier dich selbst. Und mach durch Ernährung, Achtsamkeit, teure Kosmetik und Sport mehr aus dir und deinem Potenzial.
Schon dabei im 5-AM-Club?
Ein weiterer Social-Media-Trend zur Selbstoptimierung: der „5 AM Club“ (5-Uhr-Club). Michelle Obama gehört dazu und steht früh auf (Barack natürlich auch), um durch einen frühen Start in den Tag Zeit für sich zu haben. Ebenso wie Jennifer Aniston, Milliardär Richard Branson, Heidi Klum oder Microsoft-Gründer Bill Gates. Vor der Arbeit haben sie schon jeweils 20 Minuten trainiert („move“), meditiert („reflect“) und sich weitergebildet („grow“). Das schlägt zumindest der Bestseller-Autor Robin Sharma vor, der die Philosophie des 5 AM Clubs begründete. Das Ziel der frühen einstündigen Morgenroutine: Kreativität, Achtsamkeit und Zufriedenheit steigern.
Motivation, Frustration, zusätzlicher Druck
In der Theorie oder der glitzernden Social-Media-Welt funktioniert dank dieser einfachen Routinen die Rechnung ganz einfach: Steh früh auf, nutze deine Zeit besser, dann bist du glücklicher. Nur was ist, wenn diese vermeintlich simple Formel so gar nicht zum eigenen Alltag passt? Wenn morgens keine Zeit für Sport ist. Die Kraft fehlt, weil die Nächte beispielsweise aufgrund kleiner Kinder wenig erholsam verlaufen. Oder andere wichtige Alltagsaufgaben, die eigene Selbstoptimierung und Achtsamkeit auf der Prioritätenliste nach hinten verdrängen. Dann können die auf den ersten Blick motivierenden Videos Frust auslösen. Und Selbstvorwürfe hervorrufen: Warum schaffe ich nicht, was scheinbar allen anderen gelingt?
Einheitskonzept vs. eigener Alltag
Nun ist es so eine Sache mit Einheitskonzepten – ob inszeniert oder tatsächlich gelebt. Sie passen leider nicht zu jedem Alltag. Daher ist ein erster heilsamer Schritt, für sich selbst herauszufinden, ob und welche trendigen Konzepte das eigene Leben bereichern. Früher aufstehen für Sport: Warum, wenn es nachmittags oder abends viel besser passt? Acai Bowl – aus Beerenpüree und gefrorenen Bananen – wie die Influencerinnen auf Instagram: Warum, wenn ich Müsli oder Porridge lieber mag? Die wohltuende Erkenntnis: Nicht alles, was in einem Video glänzt, muss den eigenen Lebensstil bereichern. Und was perfekt scheint, hat häufig nur wenig mit dem tatsächlichen Leben zu tun.
Der richtige Umgang mit Fehlern
Das gilt auch für vermeintliche und tatsächliche „Alltags-Fehler“, die wir uns selbst häufig vorwerfen. Hier hätte man schlagfertiger sein müssen, dort eine bessere Idee haben können. Oder einfach mehr aus den eigenen Möglichkeiten rausholen sollen. Statt an sich selbst zu zweifeln, könnten wir auch akzeptieren, dass Scheitern alternativlos ist. Viel entscheidender ist, wie wir mit unseren „Fehlern“ umgehen. Dabei kann die Erkenntnis helfen, wie unser Gehirn funktioniert und wie es mit unliebsamen Erfahrungen umgeht.
Egoschutz wichtiger als Lerneffekt?
Wir sind darauf programmiert, negative Emotionen über uns zu vermeiden. Scheitern empfinden wir als bedrohlich, weil es unser Selbstwertgefühl in Gefahr bringt. Stattdessen suchen wir Anerkennung und Applaus. Hat etwas geklappt, machen wir es das nächste Mal einfach wieder genauso. So weit, so bequem. Nur: Weiterentwicklung und Erkenntnisgewinn sind häufig eben auch mit Fehlern oder Scheitern verknüpft. Aus den gemachten Fehlern die wertvollen Informationen zu identifizieren, ist jedoch der kompliziertere und mühsamere Weg. Wir müssen zunächst verstehen (wollen), warum etwas nicht funktioniert hat oder schiefgelaufen ist. Studien zeigen, dass wir dazu häufig nicht bereit sind. Stattdessen neigen wir dazu, Fehler schnell abzuhaken und nicht weiter darüber nachzudenken. Wir möchten unser Ego schützen. Somit vergeben wir die Chance, Informationen mit großem Wert für unsere Zukunft zu nutzen.
Das Trial-and-error-Prinzip als Evolutionsmotor
Aber wer Fehler und Misserfolg ignoriert, landet in einer Sackgasse und kann keine Kurskorrekturen vornehmen. Denn ohne Scheitern kein Fortschritt. Trial and error – die gesamte Evolution verläuft nach diesem Prinzip. Etwas versuchen, Fehler machen, daraus lernen und neu versuchen. Die Welt ist zu komplex, um immer vorab schon die richtige Lösung zu kennen. Dies zu akzeptieren, könnte ein Schritt sein zu einem besseren Umgang mit eigenen „Fehlern“ – und uns etwas Perfektionismus-Druck aus dem Alltag nehmen. Ein anderer Weg: Öffentlich über eigene Fehler zu sprechen. So genannte „Fuck-up-nights“ geben dem Scheitern eine Bühne. Hier berichten Menschen öffentlich von ihren größten Fehlern, von falschen Entscheidungen, die beispielsweise zu Privatinsolvenzen führten. Durch ihre persönlichen Geschichten geben sie anderen die Möglichkeit, aus diesen Fehlern zu lernen, die sonst unbemerkt unter dem Mantel des Schweigens geblieben wären.
Fazit: Verlieren ist was für Gewinner
Wissenschaftler sind sich einig: Wir müssen scheitern, weil es eine natürliche Begleiterscheinung unseres Handelns ist. Wir können nicht vorab alle Eventualitäten berücksichtigen, dafür ist unsere Welt zu komplex. Auch wenn wir uns wünschen, dass unser Alltag perfekt verläuft, sollte nicht der Frust dominieren, wenn es einmal nicht so ist. „Shit happens“ – und Scheitern auch. Was soll’s, weiter geht’s! Dafür ist auch ein realistischer Blick auf die eigenen Prioritäten wichtig: Ein entspannter Kaffee am Morgen ohne weitere Selbstoptimierungsverpflichtungen ist vielleicht das deutlich passendere „That girl“- oder „That boy“-Rezept. Oder der eigene 5-AM-Club startet eben erst halb neun. Zufriedenheit ist kein Einheitskonzept, das sich einfach übertragen lässt. Und unser persönlicher Alltag eben nur selten so perfekt inszeniert wie ein Tiktok-Video. Wer jeden Tag alles gibt, kann eben auch mal verlieren – und so wertvolle Erfahrungen gewinnen.
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