Grundsätze statt Vorsätze so ändert sich 2024 wirklich etwas
Neues Jahr, alter Stress? Eigentlich sollte 2024 alles entspannter laufen. Nun drängeln bereits wieder unzählige unbeantwortete E-Mails und dringende To-dos, die während der freien Tage aufgelaufen sind. Dabei sollten gute Vorsätze Ruhe und Planbarkeit in den Alltag bringen. Mehr Balance zwischen Privat- und Berufsleben. Mehr Sport sowieso. Gesündere Ernährung, na klar. Oder der Klassiker: Endlich mit dem Rauchen aufhören. Stattdessen: Alles beim Alten? Und der Stress ist gefühlt – wie sollte es anderes sein – bei einem selbst am Größten. Wen man auch fragt, Familien mit Kindern, Alleinerziehende oder Singles. Die Antwort: Schon im Januar dreht sich das Hamsterrad wieder auf Hochtouren.
Stress – was ist das?
Grundsätzlich ist Stress nicht zwangsläufig schlecht, sondern eine natürliche Reaktion des Körpers. Schnellere Atmung, erhöhter Puls – unser Organismus geht in einen Modus der Alarmbereitschaft, etwa um Bedrohungen zu meistern. Um mehr leisten zu können, steigen im Blut Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin an. Bei Stressforschern wird häufig zwischen positiven Stress (Eustress) und negativem Stress (Distress) unterschieden. Dauerhafter Distress sowie anhaltende Überforderungen können auch Krankheiten wie Bluthochdruck begünstigen, wodurch das Risiko eines Schlaganfalls oder Herzinfarkts steigen kann.
Individuelles Stressempfinden vs. allgemeingültige Lösungen
Doch wenn die guten Vorsätze nicht helfen, was dann? Nur wenig Sinn haben vollmundige Versprechungen, wie sie gerade zum Jahresstart in vielen Ratgeber-Texten zu lesen sind: Tu dies, dann verschwindet der Stress. Oder jenes, für einen entspannten Alltag. Sie zeichnen ein Bild, dass eigentlich alles ganz einfach wäre. Dass es andere auch hinbekommen. Und sie bewirken letztlich nur eins: mehr Stress.
Weitaus vielversprechender könnte sein, die Ursachen des persönlichen Stressempfindens besser zu verstehen. Und damit auch, dass viele Stressfaktoren unmittelbar mit den persönlichen Lebensumständen zusammenhängen. Und damit, wie wir den Alltag organisieren. Übersteigt die Vielzahl der zu erledigenden Aufgaben in Beruf- oder Privatleben dauerhaft unsere Kraftreserven, können Stress und Überforderung die Folge sein. Dabei sind die Auslöser von Stress sehr individuell. Familien mit Kindern haben typischerweise mit anderen Stressfaktoren zu kämpfen als Alleinerziehende oder Singles.
Familien mit Kindern: Stress der alltäglichen Verpflichtungen
Nehmen wir das Beispiel Familien mit Kindern. Hier entsteht häufig Stress, durch die täglichen Verpflichtungen, die unter Zeitdruck erledigt werden müssen. Trotz schlafloser Nächte am kommenden Tag Höchstleistung im Beruf bringen und nebenbei den Alltag organisieren. Sind beide Eltern berufstätig und der Nachwuchs noch sehr jung, kann dies besonders kräftezehrend sein. Die Mammutaufgabe: Familienarbeit und Beruf unter einen Hut zu bekommen – und dabei den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden.
Alltagsorganisation und „Mental Load“: Frauen leisten meist den Löwinnenanteil
Und wäre das allein nicht stressig genug, zeigen viele Studien: In Paarbeziehungen sind die Arbeit im Haushalt und die Sorgearbeit in der Familie häufig ungleich verteilt. Frauen investieren dafür deutlich mehr Zeit als Männer. Das zeigt auch der Zweite Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Demnach wenden Frauen pro Tag für Care-Arbeit 4 Stunden und 13 Minuten auf – Männer hingegen nur 2 Stunden und 47 Minuten. Der sogenannte „Gender Care Gap“ beträgt also 87 Minuten.
Ein weiteres Beispiel: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich in Paarbeziehungen von Erwerbstätigen überwiegend Frauen um die Alltagsorganisation kümmern, liegt bei 62 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich vor allem der Mann darum kümmert, liegt hingegen nur bei 20 Prozent. Das ergab eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts. Das Problem: Viele dieser zusätzlich übernommenen Tätigkeiten werden nicht explizit genannt. Der damit einhergehende Stress bleibt somit unsichtbar an einer Person hängen – meist an den Frauen. „Mental Load“ nennt sich dieses permanente Sich-Kümmern und Organisieren.
Als Beispiel für die unsichtbare Denkarbeit wird häufig die Einladung eines Kindes zu einem Kindergeburtstag genannt. „Mental Load“ meint dabei die Planungs- und Koordinierungsprozesse rund um das eigentliche Ereignis – wie bereits bestehende Termine absagen, Koordination von Bringen und Abholen des Kindes sowie Überlegungen zum Kauf und Verpacken des Geschenkes. Wie Kindergeburtstage gibt es zahlreiche weitere alltägliche Verpflichtungen, die unzählige Planungsschritte erfordern, die im Übermaß Stress verursachen können.
Und was hat die ungleiche Verteilung der Arbeit im Haushalt und der Sorgearbeit in der Familie mit der Vermeidung von Stress in Paarbeziehungen zu tun? Falls das bestehende Aufgaben-Setup einseitigen Stress hervorruft, könnten grundsätzliche Änderungen daran etwas verbessern. Ein möglicher Ansatzpunkt: die familiäre Aufgabenverteilung zu überdenken – und gemeinsam neu zu strukturieren.
Fokus Alleinerziehende: Den Alltagsstress alleine schultern
Stress reduzieren, durch eine bessere Verteilung der Aufgaben? Für die meisten Alleinerziehenden dürfte dieser Lösungsansatz wie ein Luxusproblem klingen. Und nicht wie eine realistische Handlungsoption. Denn wer sollte der Back-up in der Ein-Eltern-Familie sein? Mehr als 8 Millionen Familien mit minderjährigen Kindern gibt es in Deutschland – etwa 20 Prozent davon sind alleinerziehend.
Und ihre Herausforderungen sind immens: Alleinerziehende tragen die Last des Alltags eben meist ganz alleine – und damit die Verantwortung, Beruf, Kinderbetreuung und Haushalt zu organisieren. Eine häufige Folge: Ein besonders hohes Stresslevel. Ausgelöst durch finanzielle Sorgen, Zeitmangel oder die Unsicherheit, den täglichen Herausforderungen gerecht zu werden. Studien belegen, dass Alleinerziehende häufiger krank sind. Doch einen Ausfall können sie sich als familiäre und wirtschaftliche Ich-AG weitaus schlechter leisten als Paare – und mit nur einem Einkommen auch finanzielle Engpässe nur schwerer ausgleichen. Wenn aber krank sein, keine Option ist, steigen Druck und Stresslevel automatisch.
Schlaue Ratgebertexte empfehlen Alleinerziehenden an dieser Stelle, gut auf sich und die eigene Gesundheit zu achten. Viel zu schlafen und Sport zu treiben. Wenn das mit all den Alltagsverpflichtungen nur so einfach wäre.
Ein weiterer, sicher gut gemeinter Rat: ein engmaschiges und funktionierendes Netzwerk aufzubauen. Damit Familie, Freunde und Bekannte oder Nachbarn beim Alltag und der Kindererziehung unterstützen können. Experten und Expertinnen raten außerdem, aktiv nach Unterstützung zu fragen. Und darüber hinaus: ein Gleichgewicht zwischen den Verpflichtungen als Mutter oder Vater – und den eigenen Bedürfnissen zu finden. Na wenn es weiter nichts ist.
Fokus Singles: Warum sollte der Stress nur Eltern zustehen?
Dann doch lieber in das stress- und sorgenfreie Leben von kinderlosen Singles eintauchen. Denn das müssten sie ja schließlich haben. Eine Oase von Freizeit und Ruhe – ganz ohne Kinder und Betreuungsverpflichtungen. So denken vielleicht etwas zu überheblich manche Eltern. Und sagen unüberlegte Sätze wie: „Bekomm du erstmal Kinder, dann reden wir weiter“. Nur: Warum sollte das zwingend so sein? Und wieso sollte es Eltern mit Kindern zustehen, dies zu bewerten?
Denn selbstverständlich haben Singles das „Recht“ auf einen stressigen Alltag. Vielleicht unterscheiden sich ihre alltäglichen Herausforderungen vom Alltag mit Kindern. Aber das sagt rein gar nichts über die Höhe ihres Stresslevels aus. Ein anstrengender Job. Der Zwang, kleine und große Entscheidungen überwiegend alleine zu treffen. Vielleicht der Wunsch, eine passende Partnerin oder einen Partner zu finden. Oder die Sorge, dauerhaft einsam zu sein oder zu bleiben. Die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger oder anderweitige herausfordernde Verpflichtungen. All das sind hinreichende Gründe für Stress.
Zusätzlicher Stress kann auch durch gesellschaftlichen Druck entstehen. Eine unterschwellige oder offen formulierte Erwartungshaltung, in einer Beziehung leben oder Kinder haben zu müssen. Oder schlicht durch das Gefühl, etwas verpassen zu können oder bereits verpasst zu haben – „Fear of missing out“ (FOMO). Und sich dadurch in bestimmten Lebenssituationen nicht festlegen zu wollen oder zu können. Ein möglicher weiterer Stressfaktor, nicht nur für Singles. Die Aufzählung zeigt, wie wenig sinnvoll und treffsicher, kurzsichtige Urteile über das vermutete Stresslevel anhand von Lebens- oder Beziehungsparametern sind.
Mein Stress, dein Stress – unser Kaffee!
Doch wie wird denn nun 2024 tatsächlich stressfreier? Vielleicht hilft es, sich gerade zum Jahresstart wieder ein paar einfache Grundsätze in Erinnerung zu rufen. Zum Beispiel, dass jede Lebens- und Beziehungskonstellation individuelle Herausforderung mit sich bringt, für die es eine eigene, alltagstaugliche Bewältigungsstrategie braucht. Ebenso wie die Erkenntnis: Gegen Stress im Alltag wirken ehrgeizige und kurzfristige Vorsätze zum Jahreswechsel nur bedingt. Es braucht meist grundsätzliche Änderungen wie eine gute Priorisierung oder gerechtere Aufgabenverteilung, um mit den eigenen Kräften besser haushalten zu können.
Aber vielleicht kann es für 2024 auch noch ein bisschen mehr sein – beispielsweise mehr Verständnis für die Situation anderer. Was, wenn in diesem Jahr nicht allein nur der eigene Stress im Fokus unserer Aufmerksamkeit steht? Sondern genügend Raum bleibt für die Herausforderungen, die Freunde oder Kolleginnen und Kollegen täglich meistern? Ganz gleich, ob sie Single sind, Kinder haben oder alleinerziehend sind. Wirksame Antworten auf zu viel Stress könnten dann auch zwei simple Fragen sein: Wie geht’s dir? Und: Magst du mir beim Kaffee davon erzählen?
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