Frühchen brauchen Nähe, Eltern brauchen Klarheit – Interview mit Expertin Vijitha Sanjivkumar über Frühgeburt, Versorgung und elterliche Stärke
17.07.2025 • 8 Minuten Lesedauer
Wenn ein Baby zu früh auf die Welt kommt, gerät für viele Eltern plötzlich alles aus dem Gleichgewicht. Der Start ins Familienleben verläuft anders als erhofft – verbunden mit Sorgen, vielen Fragen und oft auch einem Gefühl von Überforderung. In dieser besonderen Zeit brauchen Eltern nicht nur medizinische Unterstützung, sondern auch Orientierung, Zuversicht und das Wissen: Ihr seid nicht allein.
In diesem Beitrag beantworten wir wichtige Fragen rund um Frühgeburt, Klinikalltag und erste Bindung – damit Sie besser verstehen, was auf Sie zukommen kann und wie Sie gut für Ihr Kind und sich selbst sorgen können.
Vijitha Sanjivkumar ist Expertin für Kinder-, Familien- und Frauengesundheit bei der KKH. Nach ihrer Ausbildung zur Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin sammelte sie über viele Jahre Erfahrung auf Intensivstationen für Frühgeborene. Heute lehrt sie an der Hochschule Hannover unter anderem zu dem Thema Patient*innen-Empowerment. In diesem Interview gibt sie Eltern fachkundige Einblicke, praktische Tipps und Orientierung für die herausfordernde Zeit rund um eine Frühgeburt.
Was genau versteht man unter einer Frühgeburt – ab wann gilt ein Baby als „Frühchen“?
Unter einer Frühgeburt wird die Geburt des Kindes vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche (SSW) beschrieben. Normalerweise erstreckt sich eine Schwangerschaft über 40 Wochen. Kommt das Kind mehr als drei Wochen zu früh, gilt es als sogenanntes “Frühchen”.
Wie häufig kommen Frühgeburten in Deutschland bzw. weltweit vor?
Jedes 11. Kind – rund 9 Prozent - kommt in Deutschland vor der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt. Weltweit liegt die Frühgeburtenrate laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) bei etwa 10 Prozent. Die meisten Frühgeburten ereignen sich in Südasien und in Afrika südlich der Sahara. Besorgniserregend ist, dass die Überlebenschancen vom Geburtsort abhängig sind: In Ländern mit niedrigem Einkommen sterben wesentlich mehr Frühgeborene als in wohlhabenden Ländern mit guter medizinischer Versorgung.
Gibt es unterschiedliche Grade oder Kategorien von Frühgeburt – und was bedeuten diese?
Ja, Frühgeburten werden international vor allem nach Schwangerschaftswoche und teilweise auch nach dem Geburtsgewicht eingeteilt. Der Bundesverband “Das frühgeborene Kind” unterscheidet vier Gruppen:
Spät Frühgeborene werden zwischen der 34. Und 37. Schwangerschaftswoche geboren. Von Reifgeborenen Kindern unterscheiden sie sich äußerlich kaum. Jedoch haben sie oft noch Entwicklungsrückstände, etwa bei der Lungenreife oder der Temperaturregulation.
Frühgeborene mit sehr niedrigem Geburtsgewicht (VLBW = “very low birth weight infants”) haben ein Körpergewicht von weniger als 1.500 Gramm. Meistens kommen diese vor der 32. SSW zur Welt.
Frühgeborene mit extrem niedrigen Geburtsgewicht (ELBW = “extremely low birth weight infants”) weisen ein Geburtsgewicht weniger als 1.000 Gramm auf und werden oftmals vor der 29. SSW geboren.
Untergewichtige Termingeborene sind Reifgeborene Kinder mit einem Geburtsgewicht von weniger als 2.500 Gramm. Da sie den Frühgeborenen gleichgestellt werden, haben Mütter beispielsweise einen Anspruch auf einen längeren Mutterschutz.
Was sind typische Ursachen oder Risikofaktoren für eine Frühgeburt?
Bei vielen Frühgeburten lassen sich die genauen Ursachen nicht bestimmen. Es wird angenommen, dass viele Einflussfaktoren zusammenwirken und zu einer Frühgeburt beitragen. Hierzu gehören folgende Bereiche:
Medizinische Ursachen sind unter anderem Infektionen der Mutter (z.B. der Harnwege oder des Genitaltrakts), Komplikationen wie Muttermundschwäche, Gebärmutterfehlbildungen, Plazentastörungen oder ein vorzeitiger Blasensprung. Auch Vorerkrankungen der Mutter wie Bluthochdruck, Diabetes, Nieren- oder Herzkrankheiten können das Risiko erhöhen. Mehrlingsschwangerschaften, ein kurzer Abstand zwischen Schwangerschaften, künstliche Befruchtungen oder eine vorangegangene Frühgeburt gelten ebenfalls als Risikofaktoren.
Lebensstilfaktoren wie Rauchen, Alkoholkonsum, Drogen, Unter- oder Übergewicht, mangelhafte Ernährung, starke körperliche Belastung und chronischer Stress stehen ebenfalls im Zusammenhang mit Frühgeburten.
Soziale und psychische Belastungen – etwa finanzielle Notlagen, schwierige Lebensverhältnisse oder emotionale Konflikte – können sich negativ auf den Schwangerschaftsverlauf auswirken. Auch das Alter der Mutter (unter 18 oder über 35 Jahre) erhöht statistisch gesehen das Risiko.
Insgesamt liegen Hinweise dafür vor, dass eine Frühgeburt sowohl durch körperliche als auch durch seelische und soziale Faktoren beeinflusst werden kann. Umso wichtiger ist eine ganzheitliche Betreuung und Früherkennung im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge.
Wie haben sich die Überlebenschancen und die medizinische Versorgung von Frühgeborenen in den letzten Jahren entwickelt?
In den letzten Jahren hat sich die Überlebensrate von Frühgeborenen, besonders extrem früh geborener Kinder, stark verbessert. Dies hängt unter anderem mit dem medizinischen Fortschritt zusammen. Allgemein ist festzustellen, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit mit fortgeschrittener Schwangerschaft erhöht und das Risiko für Komplikationen sinkt.
Was bedeutet eine Frühgeburt für die ersten Lebenstage des Kindes – und was für die Eltern?
Aus meiner Erfahrung heraus sind die ersten Tage nach der Geburt für die Eltern sehr belastend. Meistens haben sie sich den Start mit ihrem Kind anders vorgestellt und stehen vor der Realität einer Intensivstation. Viele Frühchen benötigen zu Beginn Atemunterstützung oder Ernährung über Sonden. Gleichzeitig steht die körperliche Erholung der Mutter nach der Schwangerschaft und Geburt an, was eine zusätzliche Belastung darstellen kann. Umso wichtiger ist es, sich aktiv Unterstützung einzufordern – sei es durch Angehörige oder dem Pflegepersonal. Eltern können zudem die psychosoziale Unterstützung, die viele Kliniken anbieten, annehmen.
Wie erleben Eltern diese ersten Stunden typischerweise, und wie werden sie in dieser Phase begleitet?
Die ersten Stunden nach einer Frühgeburt sind für viele Eltern eine Ausnahmesituation. Häufig reagieren sie mit Schock, Angst oder einem Gefühl des Kontrollverlusts. Bei manchen kann die Situation tiefe Spuren hinterlassen, vor allem, wenn das Kind auf Intensivstation kommt. Kliniken bieten psychosoziale Unterstützung an, die in Anspruch genommen werden sollte, um das Erlebte zu verarbeiten. Nach komplikationsreichen Geburten kann es entlastend sein, sich den Geburtsbericht aushändigen zu lassen. Im Nachgang ist zu empfehlen, die Sorgen und Ängste bei der behandelnden Frauenarztpraxis oder der Hebamme anzusprechen.
Was hilft Eltern dabei, sich trotz der Ausnahmesituation mit ihrem Kind verbunden zu fühlen?
Auch unter den besonderen Bedingungen auf Intensivstation gibt es Möglichkeiten, die Bindung zum Kind zu stärken. Viele Eltern legen nach Rücksprache mit dem Personal beispielsweise ein getragenes T-Shirt oder ein kleines Stofftuch mit ihrem Eigengeruch in das Wärmebett oder den Inkubator. Der wahrgenommene Geruch beruhigt die Kinder oft. Zudem ist es empfehlenswert, auf Parfum zu verzichten, damit der Wiedererkennungswert durch den Körpergeruch gegeben ist. Besonders förderlich ist auch die körperliche Nähe: Das sogenannte „Känguruhen“, also der Haut-zu-Haut-Kontakt mit Mutter oder Vater, stärkt nachweislich die emotionale Verbindung und wirkt sich positiv auf das Wohlbefinden des Kindes aus.
Viele Mütter berichten von einem „emotionalen Schock“ – wie sind Sie diesen Gefühlen im Klinikalltag begegnet?
Ein emotionaler Schock nach einer Frühgeburt ist keine Seltenheit – viele Mütter und auch Väter erleben diese Situation als überfordernd. Im Klinikalltag versucht das medizinische Personal so gut wie möglich die Eltern mit in die Versorgung einzubinden, sie auf dem Laufenden zu halten und ein offenes Ohr für Fragen oder Sorgen zu haben. Wenn der seelische Ausnahmezustand jedoch anhält oder sich verstärkt, ist es sehr empfehlenswert, Unterstützung durch den psychosozialen Dienst der Klinik in Anspruch zu nehmen – niemand muss diese Situation allein bewältigen.
Wie kann eine enge Bindung zwischen Mutter (oder Vater) und Frühchen auch auf der Intensivstation gefördert werden?
Zu Beginn haben viele Eltern Berührungsängste – die medizinischen Geräte und die ungewohnte Umgebung können einschüchtern. Doch gerade in dieser sensiblen Zeit ist Nähe besonders wichtig. Schon kleine Dinge wie das Wickeln, Füttern oder sanftes Berühren fördern die Bindung und geben auch den Eltern das Gefühl, aktiv für ihr Kind da zu sein. Das medizinische Personal unterstützt dabei gern und zeigt Schritt für Schritt, wie Eltern sich einbringen können. Für das Baby ist die Wärme, die Stimme und der vertraute Geruch von Mutter oder Vater ein beruhigender Anker – selbst inmitten der Technik.
Was bedeutet „Känguruhen“, und welche Wirkung hat es auf das Kind – und auf die Eltern?
Beim sogenannten „Känguruhen“ liegt das Baby nur mit einer Windel bekleidet direkt auf dem nackten Oberkörper von Mutter oder Vater und wird dabei warm zugedeckt. Dieser Haut-zu-Haut-Kontakt vermittelt dem Kind Nähe, Sicherheit und erinnert es an die Geborgenheit im Mutterleib – Herzschlag, Wärme und Körpergeruch der Eltern wirken beruhigend. Die Methode verbessert nachweislich die Temperaturregulation, Atmung und Gewichtszunahme des Kindes und senkt seinen Stresspegel. Auch für die Eltern ist das Känguruhen wertvoll: Es stärkt die Bindung, reduziert Ängste und fördert das Vertrauen in die eigene Elternrolle. Ideal ist eine Dauer von mindestens einer Stunde – und sofern es dem Kind gut geht, kann das Känguruhen beliebig oft wiederholt werden.
Warum ist Muttermilch gerade für Frühgeborene so wichtig – auch wenn das Stillen anfangs noch nicht möglich ist?
Muttermilch spielt für Frühgeborene eine zentrale Rolle. Selbst wenn das direkte Stillen zunächst noch nicht möglich ist. Sie enthält beispielsweise spezielle Abwehrstoffe oder Enzyme, die das noch unreife Immunsystem stärken. Muttermilch kann das Risiko für nekrotisierende Enterokolitis (NEC), einer schwerwiegenden Darmerkrankung, senken und die Entwicklung fördern. Wenn die Muttermilch nicht ausreicht oder nicht verfügbar ist, kann in der Klinik nachgefragt werden, ob Spenderinnenmilch erhältlich ist.
Gibt es Alternativen oder Unterstützungsmöglichkeiten, wenn eine Mutter nicht stillen kann oder möchte?
Wenn Muttermilch nicht oder nur teilweise gegeben werden kann, ist pasteurisierte Spenderinnenmilch die beste Alternative. Im Gegensatz zur Säuglingsnahrung bietet sie mehr Vorteile. Unterstützung können Stilberatende, Milchbanken oder spezielle Frühchen-Stillambulanzen bieten.
Welche Fragen stellen Ihnen Eltern von Frühgeborenen am häufigsten – und welche Sorgen begegnen Ihnen immer wieder?
Die häufigsten Fragen, die sich Eltern meiner Erfahrung nach stellen sind, wie groß die Überlebenschancen sind, ob sich die Situation auf die Entwicklung auswirkt und wie sie diese Erfahrung verarbeiten können. Hier ist es wichtig, die Sorgen anzusprechen und sich bei Bedarf professionelle Unterstützung zu holen.
Wie können Eltern mit der Ungewissheit umgehen, wenn sie nicht wissen, wie es ihrem Kind langfristig gehen wird?
Als hilfreich empfinden viele Eltern, Gespräche mit dem Behandlungsteam, psychologische Betreuung oder den Austausch mit anderen Eltern. Es ist wichtig, Sorgen und Ängste zuzulassen, aber sich nicht in diesen zu verlieren und sich bei Bedarf professionelle Unterstützung zu suchen.
Wie bewusst ist (werdenden) Eltern Ihrer Erfahrung nach, dass es unterschiedliche Versorgungslevel bei Geburtskliniken gibt – und dass diese bei Risikoschwangerschaften entscheidend sein können?
Nach meiner Erfahrung wissen vielen Eltern nicht, dass Geburtskliniken in Deutschland nach vier Versorgungsstufen eingeteilt sind. Dabei kann die Wahl der Klinik bei einer Risikoschwangerschaft entscheidend sein. Beispielsweise dürfen nur Kliniken mit entsprechender Ausstattung und Erfahrung extrem früh geborene Kinder versorgen. Frauen, die eine Risikoschwangerschaft haben, sollten daher in spezialisierten Zentren entbinden, um Komplikationen möglichst zu vermeiden.
Was erleben Sie im Klinikalltag – wie häufig kommt es vor, dass Frauen mit Risikofaktoren in Kliniken mit niedriger Versorgungsstufe entbinden?
Im Klinikalltag habe ich zwischendurch erlebt, dass Frauen mit Risikoschwangerschaften in Kliniken entbinden, die für komplexe Verläufe nicht ausreichend ausgestattet sind. Wenn Frauen beispielsweise in einer Einrichtung mit der niedrigen Versorgungsstufe (Level IV) entbinden, ist wichtig zu wissen, dass diese Kliniken in der Regel weder über eine Kinderstation noch über eine durchgehende Anwesenheit von Kinderärztinnen oder Kinderärzten verfügen. Das birgt Risiken, etwa wenn das Neugeborene sofort intensivmedizinisch versorgt werden muss. In diesen Fällen wird eine frühzeitige Verlegung in ein geeignetes Perinatalzentrum veranlasst.
Welche Konsequenzen kann es haben, wenn eine Frau mit Risikoschwangerschaft in einer nicht ausreichend ausgestatteten Klinik entbindet – sowohl medizinisch als auch emotional?
Wenn eine Frau mit Risikoschwangerschaft in einer Klinik entbindet, die nicht über die nötige Ausstattung und Erfahrung verfügt (z. B. kein Perinatalzentrum mit Neonatologie), kann das medizinische Risiko für Mutter und Kind deutlich steigen. Komplikationen wie akute Frühgeburten, Notkaiserschnitte oder notwendige intensivmedizinische Maßnahmen beim Neugeborenen lassen sich dann oft nicht sofort und optimal behandeln. In solchen Fällen ist eine schnelle Verlegung des Kindes – manchmal auch getrennt von der Mutter – notwendig.
Das kann für Eltern emotional sehr belastend sein: Der plötzliche Transport, fehlender Hautkontakt und das Gefühl, „nicht bei seinem Kind sein zu können“, hinterlassen oft Unsicherheit, Angst und Schuldgefühle. Eine Geburt in einer geeigneten Klinik erhöht nicht nur die medizinische Sicherheit, sondern auch die Chance auf einen stabileren, emotional entlasteten Start ins Familienleben.
Welche Informationen bräuchten Schwangere Ihrer Meinung nach frühzeitig, um sich bewusst für eine geeignete Klinik zu entscheiden?
Werdende Eltern sollten früh über die individuellen Risikofaktoren aufgeklärt werden. Bei der Auswahl der Geburtsklinik ist es wichtig, sich zu informieren, ob die Einrichtung den medizinischen Bedürfnissen im konkreten Fall gerecht wird. Dazu zählt z. B., ob eine Kinderstation vorhanden ist, ob rund um die Uhr Kinderärztinnen oder Neonatologinnen verfügbar sind und welche Berufsgruppen (z. B. Anästhesie, Geburtshilfe, Pädiatrie) in welchem Umfang vor Ort tätig sind. Diese Informationen helfen, eine fundierte und sichere Entscheidung zu treffen.
Wie gut ist das Wissen über typische Risikofaktoren bei Schwangerschaften – z. B. Alter, Vorerkrankungen oder frühere Komplikationen – bei den Patientinnen ausgeprägt?
Ich nehme wahr, dass das Bewusstsein in diesem Bereich geschärft werden sollte, da vielen Frauen nicht bewusst ist, dass sie eine Risikoschwangerschaft haben oder welche Bedeutung es haben kann, wenn sie in einer Klinik entbinden, die nicht zu ihren medizinischen Bedürfnissen passt. Es ist zu empfehlen, im Rahmen der Vorsorge gezielt mit der behandelnden gynäkologischen Praxis oder der Hebamme in das Gespräch zu gehen.
Welche Rolle spielt die ärztliche Beratung bei der Wahl der Geburtsklinik?
Die ärztliche Beratung spielt eine zentrale Rolle bei der Wahl der passenden Geburtsklinik. Es ist wichtig, dass werdende Mütter im Rahmen der Vorsorge aktiv nach möglichen individuellen Risikofaktoren fragen und gemeinsam mit der behandelnden Ärztin oder dem Arzt besprechen, welche Klinik den medizinischen Anforderungen am besten entspricht. Eine fundierte Empfehlung kann wesentlich dazu beitragen, die Sicherheit für Mutter und Kind zu erhöhen.