Interview: Selbstakzeptanz und Selbstliebe fördern - Expertin de Vries im Gespräch

Frau de Vries, was verstehen Sie unter Selbstfürsorge? Warum ist sie so wichtig, besonders in stressigen Zeiten?

Frau de Vries: Selbstfürsorge bedeutet für mich, sich selbst mit Achtsamkeit und Respekt zu begegnen. Es geht darum, sich bewusst Raum für die eigenen Bedürfnisse zu schaffen – körperlich, emotional und mental. Gerade in herausfordernden Lebensphasen vergessen wir oft, dass unsere Energie eine endliche Ressource ist. Ohne regelmäßige Selbstfürsorge geraten wir schneller aus dem Gleichgewicht – mit Folgen für unsere Gesundheit, unsere Beziehungen und unseren Alltag. Besonders im Familienkontext ist sie ein Schlüssel zu mehr Ruhe, Klarheit und Verbindung. 

Wie wirkt sich mangelnde Selbstfürsorge auf die Gesundheit von Eltern und auf die familiäre Dynamik aus?

Frau de Vries: Wenn Eltern dauerhaft über ihre Grenzen gehen, geraten sie schnell in einen Zustand dauerhafter Erschöpfung. Die Folge ist oft Reizbarkeit, Ungeduld und das Gefühl, nur noch zu funktionieren. Das wiederum wirkt sich unmittelbar auf das Miteinander mit Partner*in und Kindern aus. Viele Eltern wünschen sich Gelassenheit – doch diese entsteht nicht durch Anstrengung, sondern durch innere Stabilität. Wer gut für sich sorgt, schafft die Grundlage dafür, auch emotional präsent für andere da zu sein. Gerade unsere Kinder brauchen emotional verfügbare Bindungspersonen, damit sie lernen können, ihre eigenen Emotionen zu regulieren.

Auf welche Anzeichen sollten Eltern achten, um zu erkennen, dass sie sich selbst vernachlässigen?

Frau de Vries: Typische Warnsignale sind chronische Müdigkeit, emotionale Überforderung und körperliche Beschwerden wie Kopfschmerzen, Verspannungen oder Schlafprobleme. Viele merken auch, dass sie im Alltag weniger Freude empfinden oder sich gereizt und innerlich leer fühlen. Das sind wichtige Hinweise darauf, dass eine Pause nötig ist – nicht als Luxus, sondern als Notwendigkeit.

Wie können Eltern eine gesunde Balance zwischen den Bedürfnissen ihrer Kinder und den eigenen Bedürfnissen finden?

Frau de Vries: Der erste Schritt ist die Erkenntnis: Die eigene Gesundheit – körperlich, psychisch und emotional – ist nicht verhandelbar. Sie ist die Basis für alles andere. Es hilft, offen in der Familie darüber zu sprechen, warum Selbstfürsorge wichtig ist – und wie alle gemeinsam dazu beitragen können. Oft liegt der Schlüssel in einer klareren Alltagsstruktur, in der Aufgaben verteilt und Prioritäten neu sortiert werden. Kinder dürfen – altersgerecht – einbezogen werden. Das stärkt nicht nur das Miteinander, sondern auch ihre eigene Selbstwirksamkeit. 

Was sind einfache, aber effektive Wege, wie Eltern Selbstfürsorge in ihren oft hektischen Alltag integrieren können?

Frau de Vries: Kleine Rituale machen einen großen Unterschied. Ein paar Minuten bewusste Atmung – wie die 4-7-8-Übung zur Beruhigung des Nervensystems – oder zehn Minuten ungestörte Teezeit können Wunder wirken, wenn sie regelmäßig stattfinden. Wichtig ist dabei die Präsenz im Moment: wahrnehmen, was gerade da ist, ohne das Handy, ohne Ablenkung. Auch das Delegieren von Aufgaben oder das klare, liebevolle Setzen von Grenzen schafft Freiraum für Selbstfürsorge.

Was sind Ihrer Meinung nach die größten Hindernisse für Eltern, die mehr Selbstfürsorge in ihren Alltag integrieren möchten? Und wie können diese überwunden werden?

Frau de Vries: Neben Zeitmangel sind es oft Schuldgefühle, die Eltern davon abhalten, für sich selbst zu sorgen. Der Gedanke, egoistisch zu sein, sitzt tief. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Selbstfürsorge ist nicht egoistisch und kein Luxus, sondern ein Akt der Verantwortung. Wer gut für sich sorgt, sorgt besser für andere – das gilt besonders im Familienalltag. Hier hilft es, das eigene Mindset zu hinterfragen und neue, förderliche Überzeugungen zu entwickeln.

Welche Auswirkungen hat es auf Kinder, wenn sie ihre Eltern als Vorbilder in Bezug auf Selbstliebe und Selbstfürsorge erleben?

Frau de Vries: Kinder lernen durch Beobachtung. Sie sehen, wie Mama und Papa mit sich selbst und miteinander umgehen – ob liebevoll oder abwertend. Wenn Selbstfürsorge im Alltag sichtbar gelebt wird, entsteht ein natürlicher Umgang mit Bedürfnissen, Grenzen und Gefühlen. Das ist die beste Prävention gegen späteres Überfordern, sich selbst verlieren oder emotionalen Rückzug. Ein Elternteil, das sich selbst respektiert, vermittelt dem Kind: „Auch du bist wichtig – und darfst gut für dich sorgen.“

Wie können Eltern ihre emotionale Resilienz stärken, um in stressigen oder belastenden Situationen besser für ihre Kinder da sein zu können?

Frau de Vries: Resilienz entsteht durch innere Stärke – und diese wird genährt durch Selbstreflexion, Verbindung und bewusste Erholung. Achtsamkeitsübungen, Meditation oder der regelmäßige Austausch mit wohlwollenden Menschen wirken wie emotionale Anker. Auch ein flexibles Mindset, das Akzeptanz statt Perfektion anstrebt, hilft dabei, Krisen besser zu bewältigen. Je klarer ich mit mir selbst bin, desto stabiler bin ich im Kontakt mit anderen – besonders mit meinen Kindern. Diese innere Haltung kann spürbar mehr Ruhe und Gelassenheit ins Familienleben bringen.

Wie können Eltern mit den Belastungen der Vollzeitrolle als Mutter oder Vater umgehen, ohne sich selbst dabei zu verlieren?

Frau de Vries: Es braucht regelmäßige Pausen – echte Auszeiten, in denen ich nicht in Funktion bin. Und es braucht die Erlaubnis, Hilfe anzunehmen: von Partner*in, Freunden, Familie oder professionellen Stellen. Viele Eltern versuchen, alles alleine zu stemmen – doch niemand muss stark sein im Alleingang. Ein liebevoller Check-in mit sich selbst kann helfen: „Wie geht es mir wirklich? Was brauche ich gerade?“ Wenn wir ehrlich auf diese Fragen antworten, erkennen wir frühzeitig, wann es Zeit ist, uns selbst wieder mehr zuzuwenden. Nur wer gut für sich selbst sorgt, kann langfristig auch für andere verlässlich da sein.

Wie können Familien insgesamt eine gesunde Routine der Selbstfürsorge entwickeln, in der auch die Kinder von klein auf lernen, auf sich selbst zu achten?

Frau de Vries: Indem Selbstfürsorge nicht als Sonderthema, sondern als selbstverständlicher Bestandteil des Familienalltags etabliert wird. Gemeinsame Rituale wie Traumreisen, stille Minuten oder kleine Achtsamkeitsübungen vor dem Schlafengehen schaffen Verbindung und Ruhe. Auch Berührung – in Form von Umarmungen oder kleinen Massagen – wirkt verbindend und regulierend. Je achtsamer ich mit meinen eigenen Bedürfnissen umgehe, desto besser können auch meine Kinder lernen, ihre eigenen Bedürfnisse wahr und ernst zu nehmen- ein wertvolles Vorbild, das wir als Eltern leben können.

Und: Gefühle dürfen benannt und geteilt werden. Wer mit Kindern über Emotionen spricht, hilft ihnen, schon früh einen Zugang zu ihren Emotionen zu finden uns diese auszudrücken. Das stärkt ihre Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung – eine der wertvollsten Ressourcen für ein gesundes Leben. 

Redaktion: Das waren sehr spannende Eindrücke – vielen Dank dafür! 

Frau de Vries: Ich danke Ihnen – es ist mir ein Herzensanliegen, Eltern zu ermutigen, liebevoll mit sich selbst umzugehen. Denn starke Eltern entstehen nicht durch Selbstaufgabe – sondern durch Selbstverbundenheit.