Interview: Nähe, Intimität und Vertrauen in einer Partnerschaft - Expertin de Vries im Gespräch

Warum schwindet die Leidenschaft in vielen langjährigen Beziehungen?

Frau de Vries: Der größte Beziehungskiller ist in meinen Augen chronischer Alltagsstress. Viele Paare verlieren sich in Routinen, To-do-Listen und beruflichen Verpflichtungen – und vergessen dabei, sich bewusst als Paar zu begegnen. Leidenschaft entsteht nicht von selbst, sie braucht Raum, Zeit und vor allem bewusste Zuwendung. Wer dauerhaft im Autopiloten lebt, verliert den Blick für das Besondere im Anderen – und damit auch für das, was einmal Anziehung erzeugt hat.

Wie kann ein Paar emotionale Nähe im Alltag stärken?

Frau de Vries: Nähe beginnt mit echtem Interesse. Es sind oft nicht die großen Gesten, sondern die kleinen, aufrichtigen Momente, die Verbundenheit schaffen. Anstatt „Wie war dein Tag?“ zu fragen – was oft nur noch ein leeres Ritual ist – empfehle ich Fragen wie: „Was hat dich heute bewegt?“ oder „Wie fühlst du dich gerade?“ Solche Fragen öffnen den Raum für tieferes Zuhören, echtes Mitgefühl – und emotionale Intimität. Es geht darum, sich wirklich zu sehen – nicht nur zu funktionieren.

Welche Rolle spielen Berührung und Zärtlichkeit für eine gesunde Beziehung?

Frau de Vries: Eine zentrale! Körperliche Nähe ist ein Grundbedürfnis – nicht nur in der Liebe, sondern im Menschsein. Schon wenige Minuten achtsamer Berührung genügen, um Oxytocin freizusetzen – ein Hormon, das Vertrauen, Sicherheit und Verbundenheit stärkt. In der Paarbeziehung wirkt es wie ein emotionales Bindemittel. Wenn Berührungen im Alltag fehlen, fehlt oft auch das Gefühl eines emotionalen Zuhauses. Deshalb darf und sollte Zärtlichkeit selbstverständlich bleiben oder wieder werden– nicht nur im Schlafzimmer, sondern auch beim Kaffeetrinken, beim Abschied oder auf dem Sofa.

Was sind typische Anzeichen dafür, dass ein Paar sich emotional entfremdet?

Frau de Vries: Emotionaler Rückzug zeigt sich auf vielen Ebenen – körperlich, kommunikativ und im gemeinsamen Alltag. Wenn Gespräche oberflächlich werden, körperliche Nähe ausbleibt und jeder beginnt, sich anderweitig zu beschäftigen – sei es mit Arbeit, Sport oder Social Media – ist das ein Alarmzeichen. Oft beginnen Paare dann, sich unbewusst voneinander „weg zu organisieren“. Es entsteht eine stille Distanz. Wichtig ist, diese Dynamik früh zu erkennen – und ihr aktiv entgegenzuwirken.

Wie können Paare mit unterschiedlichen Bedürfnissen nach Intimität umgehen?

Frau de Vries: Unterschiedliche Bedürfnisse sind vollkommen normal – entscheidend ist der Umgang damit. Gerade bei Intimität ist es essenziell, offen und wertschätzend zu kommunizieren. Leider sprechen viele Paare viel zu selten oder nur verkopft über ihre sexuellen Wünsche und Grenzen. Dabei beginnt echte Nähe da, wo wir uns trauen, verletzlich zu sein. Im Coaching erleben wir immer wieder, wie heilsam es ist, wenn beide Seiten lernen, ihre Perspektive zu öffnen und neugierig zu bleiben – mit Leichtigkeit und ohne Bewertung. So kann Verständigung entstehen – und auch Spielräume für neue Lösungen, sei es monogam oder in anderen Beziehungsformen.

Welche Bedeutung haben die fünf Sprachen der Liebe für eine erfüllte Partnerschaft?

Frau de Vries: Eine sehr große. Die fünf Sprachen – Lob & Anerkennung, Zweisamkeit, Geschenke, Hilfsbereitschaft und körperliche Zärtlichkeit – helfen uns zu verstehen, wie wir Liebe ausdrücken und empfangen. Oft sprechen Partner unterschiedliche „Liebessprachen“ – und übersehen dadurch, wie viel der andere bereits gibt. Wenn ich z. B. Zärtlichkeit brauche, mein Partner aber durch praktische Hilfe zeigt, dass er mich liebt, kann das zu Missverständnissen führen. Wer die Sprache des anderen kennt, öffnet sich für mehr Empathie – und stärkt so die emotionale Verbindung.

Welche Faktoren führen oft zu Eifersucht – und wie kann man damit umgehen?

Frau de Vries: Eifersucht ist fast immer ein Spiegel der eigenen Unsicherheit. Sie entsteht dort, wo wir uns selbst nicht sicher sind und innerlich Fragen wirken wie „Bin ich genug? Bin ich liebenswert?“ Hinzu kommen oft frühere Verletzungen oder Glaubenssätze, die nie bewusst hinterfragt wurden. Der erste Schritt ist deshalb immer Selbstreflexion. Gleichzeitig braucht es Offenheit im Gespräch: Was bedeutet für uns Treue? Wo liegen unsere Grenzen? Paare haben häufig sehr unterschiedliche Definitionen von Nähe, Ehrlichkeit und Loyalität – und ohne Klarheit entsteht unnötiges Misstrauen.

Welche Strategien helfen Paaren, nach einem Vertrauensbruch wieder zueinanderzufinden?

Frau de Vries: Es ist sehr wichtig, darüber zu sprechen, was passiert ist. Schweigen löst nichts und Vorwürfe beringen keine Heilung, sie schaffen nur mehr Distanz. Vertrauen lässt sich nicht einfordern – es muss wieder aufgebaut werden. Und das braucht Zeit, Geduld und vor allem: echte Bereitschaft, hinzuschauen. Es geht nicht darum, die Vergangenheit zu verdrängen, sondern sie gemeinsam zu verarbeiten. Dazu gehört ein Raum, in dem Gefühle ausgesprochen werden dürfen – ohne Schuldzuweisungen, aber mit Ehrlichkeit. Heilung beginnt da, wo Verletzungen benannt werden dürfen. Kleine, verlässliche Rituale im Alltag können zusätzlich Stabilität geben – solange sie nicht zur Kontrolle ausarten. Vertrauen braucht Freiheit, nicht Überwachung.

Kann eine Beziehung nach Untreue langfristig wieder glücklich werden?

Frau de Vries: Ja – wenn beide Partner bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und durch den Schmerz hindurchzugehen. Untreue ist oft der sichtbare Ausdruck eines tieferliegenden Ungleichgewichts. Die zentrale Frage ist: Was hat zur Entfremdung geführt? Und was genau war die eigentliche Wunde – die Lüge, die Enttäuschung, das verlorene Vertrauen? Wenn Paare bereit sind, sich wirklich auf diesen Prozess einzulassen, kann aus einer Krise sogar eine tiefere Form der Verbindung entstehen. Es ist ein Weg, der nicht leicht ist, aber heilend sein kann- wenn er gemeinsam gegangen wird.

Redaktion: Vielen Dank, Frau de Vries, für diese spannenden Eindrücke.

Frau de Vries: Ich danke Ihnen – es ist mir ein Herzensbedürfnis, Menschen dabei zu begleiten, wieder zueinander zu finden.