Navigation überspringen

Mitgliedermagazin der KKH

Dr. Donya Gilan leitet den Bereich „Resilienz und Gesellschaft“ am Mainzer Leibniz-Institut für Resilienzforschung. Wir sprachen mit der Psychologin darüber, warum die Zahl der psychischen Erkrankungen in Deutschland so rapide gestiegen ist.

Frau Dr. Gilan, ein Drittel aller Menschen hierzulande leidet unter einer psychischen Störung. Wie kommt das?

Inzwischen ist nachgewiesen, dass stressbedingte Ängste und Depressionen in der Bevölkerung seit der Pandemie deutlich zugenommen haben. Wir sprechen allein in Deutschland von 18 Millionen Betroffenen. Grund dafür ist, dass die Stressfaktoren heutzutage vielschichtiger sind. Wir haben es mit vielen gleichzeitigen, großen Krisen zu tun, und die Medien befördern die Negativschlagzeilen quasi in Echtzeit zu uns.

Wie sind denn frühere Generationen mit Krisen umgegangen?

Die Menschen haben stark auf den sozialen Zusammenhalt gesetzt. In Krisenzeiten hat man sich eher gegenseitig geholfen und in seiner Gruppe Schutz gesucht.

Aber mit der Corona-Pandemie wurde doch auch groß vom Zusammenhalten gesprochen …

Ja, aber dem standen die vielen Beschränkungen in den Lockdowns gegenüber. Wer da bereits in einer kritischen Phase war, erreichte gewissermaßen den Kipp-Punkt, der in die psychische Störung führt.

Also eine Schere zwischen Wunsch und Wirklichkeit?

Anfangs sicherlich, aber ich finde auch, dass die Menschen seitdem tatsächlich mehr Wert auf das „Wir-Gefühl“ und die Partnerschaftlichkeit legen. Da hat sich etwas zum Positiven hin entwickelt. Viele stellen sich mehr als früher die Frage, wie sie in Zukunft leben wollen oder was zum Beispiel die Familie für sie bedeutet. Scheinbar Selbstverständliches wird hinterfragt. Es gibt nicht mehr diese Vollkasko-Mentalität, die vor der Pandemie noch sehr verbreitet war. Letzten Endes ist uns bewusst geworden: Die eine Sicherheit schlechthin im Leben gibt es nun mal nicht.

Wie könnte sich dieses Umdenken langfristig auswirken?

Manche Menschen reagieren empfindlich auf Stress. Andere sind deutlich robuster – sie haben eine höhere Resilienz. Individuelle Unterschiede in der Resilienz könnten epigenetisch bedingt sein. Unter Epigenetik versteht man den Einfluss von Umweltbedingungen auf das Ergbut. Hierbei sind nicht die Gene selbst verändert, sondern ihre Aktivität. Stress kann zum Beispiel epigenetische Veränderungen auslösen.

In der modernen Arbeitswelt ist viel die Rede vom Abbau der Hierarchien, von Fehlerkultur und Offenheit im Umgang miteinander. Wieso steigt dann die Zahl der berufsbedingten Burnouts an?

Viele Arbeitgeber gehen zu oberflächlich an diese Themen heran. Mit einem Seminar oder Fitnessangeboten ist noch nichts nachhaltig für die psychische Gesundheit der Beschäftigten gewonnen. Führungskräfte müssen Vorbilder sein und ihren Teams konkret vorleben, was es heißt, für sein inneres Gleichgewicht zu sorgen. Und sie müssen den Beschäftigten Nischen lassen – also die Möglichkeit, sich vom Arbeitsstress auch mal einfach zu erholen.

Warum können Senioren oft besser mit Krisen umgehen als die Jüngeren?

Sie haben mehr Vergleichsmöglichkeiten und Erfahrungen. Leider findet heutzutage nur noch ein eingeschränkter Dialog zwischen Alt und Jung statt. Dabei könnten jüngere Menschen von den Erzählungen aus der Vergangenheit nur profitieren. Hier müsste auch die Politik eine stärkere Integration zwischen den Generationen fördern.

Sie betreiben eine Resilienz-Ambulanz für Bürger. Was bieten Sie dort an?

Die Ambulanz soll die Lücke zwischen dem Beginn einer Lebenskrise und einer therapeutischen Behandlung schließen. Sie setzt mit einem extra entwickelten Gesundheitsprogramm dort an, wo Betroffene durch gezielte Selbstbeobachtung die kritischen Stressmomente in ihrem Leben beseitigen, um so wieder zu psychischer Stabilität zu gelangen. Einige Angebote sind übrigens als Präventionskurs anerkannt. Unternehmen haben darüber hinaus die Möglichkeit, im Rahmen des „Employee Assistance Program“ die Resilienz ihrer eigenen Beschäftigten zu fördern.

Weitere Informationen: lir-mainz.de

donya-gilan

Der Journalist und Bestseller-Autor Tim Pröse hat Menschen begleitet, die aus einer schweren Krise zurück ins Leben gefunden haben. In seinem Buch „Der Tag, der mein Leben veränderte“ beschreibt er berührende Schicksale und die bewundernswerte Kraft, mit der es gelingen kann, aus einer noch so aussichtlosen Situation herauszufinden.

Tim, wie bist Du zum Thema Resilienz gekommen?

Seit 30 Jahren schreibe ich über Menschen, prominente und nicht bekannte, die sich für das Leben, das Überleben entschieden haben. Die in einen Abgrund gefallen sind und sich wundersam wieder emporschwangen. Ich nenne sie Phönix-Menschen, nach dem Vogel in der antiken Sage, der verbrennt und aus seiner Asche wiederaufersteht.

Bei den Menschen, über die du schreibst, kommt immer wieder eins zum Vorschein: Um sich aus einer tiefen Krise oder Ängsten zu befreien, ist vor allem die Bindung oder der Kontakt zu anderen wichtig …

Ja, wir brauchen rettende Hände. Aber noch mehr unseren ganz eigenen Willen. Am meisten beeindruckt hat mich die Geschichte eines Freundes aus Israel, der den Holocaust überlebt hat. Und das Schicksal meines bewunderten Freundes Udo Lindenberg. Ein Leben lang durfte ich ihn immer wieder begleiten. Und ich freue mich, wie dieser „Phönix aus der Asche“, der eigentlich schon längst tot war, wieder aufgestiegen ist.

Muss man erst vor seinem Schicksal kapitulieren, bevor man resilient wird?

Nein! Bitte nicht aufgeben! Und auch nicht warten, bis man auf den Boden sinkt. Wenn es aber dennoch so weit kommt und man mit dem Gesicht im Dreck liegt, sollte man graben. Mir fällt da ein, was Alexa Feser in einem ihrer Lieder sinngemäß sagt, dass im Dreck das Gold von morgen liegt. Großartig! Zu graben bedeutet, sich zu hinterfragen, zu schürfen nach dem Sinn, sich dem Abgrund zu stellen, um sich aus ihm zu befreien.

Was hilft Menschen auf ihrem Weg zurück ins Leben, nicht den Mut zu verlieren? Die Hoffnung auf Befreiung aus der Krise?

Eben genau diese Freiheit sollte uns alle ermutigen. Aber zur ganzen Freiheit gehört auch ihre harte, raue Seite. Sich ihr zu stellen, fürchten wir, aber das macht erst wirklich frei. Konstantin Wecker hat zum Beispiel in meinem Gespräch mit ihm gesagt, dass er sich am freisten gefühlt hat, als man ihn mitten im Drogensumpf eingesperrt hatte. Weil man ihm seine bisherige, scheinbar selbstverständliche Freiheit genommen hatte.  

Wie weit müssen die Menschen, die du begleitet hast, weiter mit ihrem Schicksal leben?

Sie nahmen ihr Schicksal an. Nur dann konnten sie ihre Vergangenheit abschütteln.

Inwiefern verändern sich die Menschen, wenn sie erfolgreich aus einer schweren Krise erwachsen sind?

So sehr, dass man es ihnen sehr schnell anmerkt. Sie leuchten förmlich von innen.

Ist Resilienz eher Kampf oder eher Sinnsuche?

Wahre Resilienz beinhaltet beides. Sonst wäre der Kampf ja an sich schon sinnlos.

Du schreibst über mehrere prominente Künstler, die alle schwere Zeiten hinter sich gebracht haben. Ist künstlerisches Schaffen eine Form von Resilienz?

Es ist doch meistens so, dass jemand mit seiner Kunst nur dann wirklich überzeugen kann, wenn er selbst in seinem Leben von der Euphorie in die Schwere gefallen ist und von dort wieder zurückfand. Nur dann berührt er uns mit seiner Kunst. Sei es ein Maler, ein Musiker oder ein Schauspieler.

Hast du im Leben selbst schon einmal Momente erlebt, in denen deine Resilienz gefragt war?

Natürlich hab ich das. Und das war die Ursache für meinen heutigen Beruf. Als ich vor sieben Jahren meinen festen Job verlor, fiel ich erst einmal ins Bodenlose. Bis ich den Mut fasste, Bücher zu schreiben. Eine scheinbar völlig aussichtslose Idee. Aber es hat geklappt, einige meiner Bücher wurden Bestseller. Seitdem habe ich auch meine Freiheit wieder zurückgeschenkt bekommen. Und darf nur noch ich selbst sein. Das habe ich von meinen Phönix-Menschen gelernt.

Weitere Informationen: timproese.com

tim-proese

Jörg Ihlau, Geschäftsführer der Werbeagentur Serviceplan in Berlin

Herr Ihlau, Serviceplan begleitet erneut die Kampagne zur Sozialwahl. Mit welchen Botschaften und medialen Mitteln versuchen Sie, die Wählerinnen und Wähler zur Mitbestimmung in diesem Jahr aufzurufen?

Die Welt ist im Vergleich zur letzten Wahl eine andere geworden: Vielen steckt die Erfahrung der Pandemie in den Knochen, die von jetzt auf gleich Arbeitswelt, Schule und Familienleben umgeworfen hat – und eine Riesenherausforderung für das Gesundheitssystem und andere Elemente des Sozialstaats war, bis zum Kurzarbeitergeld. Nun haben wir auch noch einen großen Krieg in Europa, das flächenmäßig größte Land versucht das zweitgrößte zu erobern.

Diese Erlebnisse haben die Menschen aus ihren gefühlten Sicherheiten herausgerissen. Das hat bei vielen die Wertschätzung für den Sozialstaat, seine Leistungen und seine Institutionen wachsen lassen - aber auch das Gefühl, dass nichts auf ewig sicher ist, wenn man nicht gut aufpasst.

Darauf wollen wir mit der Kampagne aufbauen: Wir appellieren für eine Teilnahme an dieser Wahl, weil sie ein gelebtes und bewährtes Stück Demokratie ist. Versicherte wählen Versicherte. Und weil Stabilität und Sicherheit nicht auf den Bäumen wachsen, sondern von Menschen gemacht werden, die sich mit viel Herz dafür einsetzen.

Auch mit persönlichen Geschichten wie die der KKH-Versicherten Sabine Schwandner wollen Sie auf diese wichtige Wahl aufmerksam machen. Was haben solche Schicksale mit der Sozialen Selbstverwaltung zu tun?

Institutionen wie die der Sozialen Selbstverwaltung wirken schnell abstrakt und weit weg. Das fängt schon bei den Namen der Gremien an, oder? Deshalb wollen wir in der diesjährigen Kampagne auch der anderen Seite eine Bühne geben, den Menschen, deren Schicksal auch von Entscheidungen der gewählten Selbstverwaltungen abhängt. Und das wirklich ganz persönlich, nah dran, bei Sabine Schwandner sogar mit großer medizinischer Brisanz.

Wenn die Selbstverwaltung einer Krankenkasse zum Beispiel über Satzungsleistungen diskutiert oder über die Ausgestaltung bestimmter Services, dann ist das für die Versicherten im Ergebnis meist gar nicht sichtbar. Das wollen wir ändern.

Geschichten wie die von Frau Schwandner sind schließlich auch Resultat einer demokratischen Kultur, in der Versicherte andere Versicherte mit dem Mandat ausstatten, um Einfluss auf die Leistungen und die Kultur einer Krankenkasse zu nehmen. In diesem Fall für eine persönliche und individuelle Unterstützung in einer tiefen Gesundheitskrise.

Novum ist die geplante Zusammenarbeit mit Influencern. Warum sind soziale Medien inzwischen für eine solche Wahl nahezu unersetzlich?

Nicht nur die Welt hat sich in den letzten Jahren deutlich weitergedreht, auch die Kommunikation. In meiner ersten Zeit in diesem Beruf vor 30 Jahren waren Journalistinnen und Journalisten die einzig relevanten Meinungsbildner, die in der Öffentlichkeit viel Gewicht hatten und Glaubwürdigkeit genossen. Im heutigen Medienkonsum sind für viele Youtuber, Blogger, Insta-Stars oder Twitch-Idole mindestens so wichtig. Nur noch ein Teil der vermittelten Nachrichten und Meinungen geht über die Tische einer journalistischen Redaktion, ein wachsender Teil fließt digital direkt von Mensch zu Mensch.

Deshalb haben wir uns auf die Suche gemacht nach Menschen, die Reichweite mit hoher persönlicher Glaubwürdigkeit zusammenbringen, und sie gebeten, in ihren Worten etwas zur Sozialwahl zum Ausdruck zu bringen. Wir können alle gespannt sein, was am Ende herauskommt. Auf jeden Fall werden wir andere und jüngere Interpretationen des Themas kennenlernen als bisher.

Aber auch ein TV-Spot in den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern sowie Plakate in Großstädten kommen zum Einsatz. Welche Bedeutung haben diese klassischen Werbeträger für die Kampagne?

Es sind gelernte Signale für die Öffentlichkeit: Achtung, hergeschaut, es ist Wahl! Das verschafft uns zumindest einen Teil der Aufmerksamkeit, die bei Parlamentswahlen durch den Wahlkampf der Parteien entsteht. Deshalb sind wir sehr dankbar, dass ARD und ZDF unseren Spot ausstrahlen werden und uns eine ganze Reihe von Großstädten das Aufstellen der Großplakate genehmigt hat.

Und nebenbei: Für eine Kreativagentur wie uns ist das auch die größte Herausforderung - eine komplexe Geschichte zu eingängig und sympathisch zu erzählen, dass sie alle Generationen zur Stimmabgabe motiviert. So eine breite Zielgruppe gibt es im Marketing sonst nie.

Eine neue Herausforderung ist in diesem Jahr die Online-Wahl bei den Ersatzkassen. So etwas hat es in Deutschland noch nicht gegeben. Welchen Effekt erwarten Sie durch diese digitale Abstimmungsmöglichkeit?

Ich glaube, die Online-Wahl heißt zurecht Modellprojekt. Alle sind total neugierig, ob alles klappt und wie viele Wahlberechtigte von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Deshalb ist es erst mal klasse, dass die Kassen den Mut aufgebracht haben, diese Pionierrolle bei einer bundesweiten Wahl in Deutschland zu übernehmen. Nun haben wir zwei Chancen: dass durch dieses Angebot mehr Menschen an der Wahl teilnehmen, weil sie so den Weg zum Briefkasten sparen. Und dass auch andere von diesem Vorbild lernen und die Erfahrungen vielleicht auch auf weitere Wahlen ausstrahlen. Vielleicht wird der wichtigste Effekt der Lerneffekt. Aber wir werden auch davon profitieren, dass dieses Stück Innovation ein interessantes Gesprächsthema rund um die Sozialwahl liefert. Und davon träumen wir Kommunikationsmenschen doch am liebsten.

 

joerg-ihlau

Noch nicht gefunden, wonach Sie suchen?