Kinder wollen mitbestimmen
Wir halten Abstand, lassen uns testen und impfen. Doch wie Kinder und Jugendliche die Corona-Pandemie erlebt und verarbeitet haben, wird sich erst zeigen. Kinderpsychologin Prof. Dr. Julia Asbrand hat Hoffnung.
Homeschooling, kaum Freunde treffen, wenig Freizeitangebote: Vor allem Kindern und Jugendlichen hat Corona eine Menge abverlangt. Was hat das mit ihnen gemacht? Und was brauchen sie, um möglichst unbeschadet durch diese Zeiten zu kommen? Antworten von Julia Asbrand, Kinder- und Jugendlichenpsychologin an der Humboldt-Universität Berlin.
Frau Asbrand, wie haben Sie den Pandemiebeginn persönlich erlebt?
Ich habe meine Professur an der HU im ersten Lockdown angetreten. Das lief natürlich anders als geplant. Bei meiner Forschung bin ich darauf angewiesen, Menschen persönlich zu treffen. Jetzt musste ich digitale Lösungen finden.
Sie haben dann in wenigen Monaten ein psychologisches Corona-Hilfsprogramm auf die Beine gestellt.
Ja, das stimmt. Wir haben uns sehr früh Sorgen um die Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche, aber auch allgemein auf das Leben der Menschen gemacht. Im September 2020 konnten wir mit einem Programm starten, das ganz praktische Hilfe für ein breites Altersspektrum bietet und gleichzeitig wissenschaftlich begleitet wird.
Lassen Sie uns den Blick auf Familien lenken: War man in diesen Zeiten besser in einer Familie aufgehoben, als ein Single zu sein?
Ich denke, sowohl Familien als auch Alleinstehende hatten es schwer, auf unterschiedliche Weise. Singles mussten das Leben von Kindern nicht organisieren. Sie brauchten auch keine Angst zu haben, dass der Partner eine Infektion einschleppt. Umgekehrt drohten sie mehr unter Einsamkeit zu leiden.
Was hat die Pandemie mit der Psyche speziell von Kindern und Jugendlichen gemacht?
Als Wissenschaftlerin beziehe ich mich natürlich gern auf Studien. Davon gibt es derzeit noch nicht viele. Eine erste Studie zeigt: Während es vorher 80 Prozent aller Kinder und Jugendlichen gut ging, waren es nach der ersten Pandemiephase weniger als 70 Prozent. Es deutet sich an, dass sich der Wert in den folgenden Wellen noch verschlechtert hat. Das deckt sich mit Aussagen, die ich aus der Praxis und aus Kliniken höre. Es ist schwierig einzuordnen, weil wir eine solche Situation vorher nie hatten.
Haben Sie Hinweise darauf, dass psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen in dieser Zeit zugenommen haben?
Wir haben auf jeden Fall einen höheren Bedarf an Krisenversorgung und mehr stationäre Aufnahmen.
Werden wir die Folgen möglicherweise erst sehr viel später sehen?
Aus der Katastrophenforschung wissen wir, dass es eine Art psychische Inkubationszeit gibt, die von mehreren Monaten bis zu Jahren reichen kann.
Viele Studien zeigen, dass sich Depressionen, Angststörungen und auch andere Erkrankungen bis zu zwei Jahre nach einer Krise noch zeigen können.
Welche Besonderheiten gibt es bei der Betrachtung von Kindern und Jugendlichen?
Einerseits sind sie in einer sehr vulnerablen Phase. Viele psychische Störungen entstehen in der Kindheit und Jugend. Andererseits können Kinder sehr resilient sein. Sie sind es gewohnt, dass sich Dinge ändern, dass sie sich anpassen müssen.
Wird es eine Generation Corona geben?
Nein, das glaube ich nicht. Wir sollten aber sehr genau auf die belastete Gruppe schauen, die in der Pandemie größer geworden ist. Und es geht generell darum, Kinder und Jugendliche besser zu unterstutzen, damit sie sich emotional und sozial gesund entwickeln können.
Wie hätte das geschehen können?
Gerade Jugendliche und junge Erwachsene wollen sich ausprobieren und ihre Identität entwickeln. Insofern sind Partys und Konzerte für diese Gruppe nicht einfach nur Freizeit. Natürlich ist körperliche Gesundheit ein extrem hohes Gut. Aber wir müssen auch andere Bedürfnisse beachten. Erst haben wir uns alle – und vor allem die Kinder und Jugendlichen – stark isoliert. Später sind zunächst ältere Menschen durch Impfungen geschützt worden. Aber ein Konzept für Kinder und Jugendliche mit Blick auf emotionale und soziale Entwicklung hat es in all den Monaten nicht gegeben.
Wie sehen das denn Kinder und Jugendliche?
Sie mochten auf jeden Fall mehr beteiligt werden und mehr mitbestimmen dürfen. Aus der Grundlagenforschung wissen wir, dass das Gefühl guttut, das eigene Leben in der Hand zu haben. Kinder und Jugendliche sind generell schon ziemlich fremdbestimmt, etwa wenn andere entscheiden, wann Unterricht stattfindet, wann Hausaufgaben gemacht werden müssen etc. Hinzu kommt, dass wir, statt mit Kindern und Jugendlichen zu sprechen, meist nur über sie reden. Und dann auch oft nur als Schülerinnen und Schüler.
Was ist denn innerhalb der Familie in einer solchen Situation hilfreich?
Erste Studien zeigen, dass es auf jeden Fall hilft, altersgerecht über die Pandemie zu sprechen. Informationen und Wissen sorgen dafür, dass man mit der Pandemie besser klarkommen kann.
Wie hat sich die Situation an den Schulen aus Ihrer Sicht dargestellt?
Schule ist mehr als nur eine Bildungseinrichtung. Sie ist ein sozialer Raum, in dem Schülerinnen und Schüler miteinander in Kontakt treten, Konflikte lösen, Gruppendynamik kennenlernen. Im sozialen Lernen sind Kinder extrem beschnitten worden.
Aber gab es nicht auch Profiteure, etwa besonders introvertierte Kinder, denen das Lernen zu Hause leichter gefallen ist?
Ja, für manche war das auch eine Entlastung. Das Problem ist nur, dass es dann für diese Gruppe umso schwieriger wurde, als die Schule wieder normal lief.
Apropos Normalität: Werden wir aus der Krise lernen?
Das ist zumindest meine Hoffnung. Dass wir soziale Kontakte starker zu schätzen wissen zum Beispiel. Oder dass es dauerhaft weniger Dienstreisen geben
wird zugunsten der Umwelt.
Waren digitale Möglichkeiten zu Interaktion und Zeitvertreib in der Pandemie eher Fluch oder Segen?
Vereinzelte Studien haben jetzt schon gezeigt, dass im digitalen Austausch durchaus Chancen liegen. Klar, wer zwölf Stunden am Tag aufs Handy schaut, bewegt sich zu wenig. Es kommt auch darauf an, womit man sich beschäftigt. Homeschooling geschieht nun mal digital. Spiele können hilfreich sein, Kontakt über Chats mit anderen Jugendlichen sowieso. Sicher werden wir durch die Pandemie mehr Medienkonsum feststellen. Man muss aber auch mal festhalten, dass die Alternativen in diesen Zeiten ja ziemlich überschaubar waren.
Kann man ganz allgemein sagen, ob es dem heutigen Nachwuchs psychisch besser oder schlechter geht als vorangegangenen Generationen?
Ich sehe zumindest nicht, dass es jungen Leuten aktuell massiv schlechter geht. Es hat schon immer Probleme in der Welt und entsprechend Ängste gegeben, auch in der jungen Generation. Kalter Krieg, Tschernobyl oder Terrorismus sind hier die Stichworte. Auf jeden Fall ist die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen deutlich besser geworden. Noch vor 60 Jahren fehlten uns in der Behandlung psychisch kranker Menschen die geeigneten Methoden, um ihnen wirklich zu helfen.
Obwohl sich viel getan hat, ist die Versorgungssituation für Menschen mit psychischen Erkrankungen noch deutlich ausbaufähig, freie Therapieplätze sind rar.
Schon vor der Pandemie hatten wir Wartezeiten zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Bei Kindern ist die Versorgungslage noch schwieriger. Von Kindern mit psychischen Störungen erhalten etwa zehn bis 20 Prozent eine passende Therapie. Es gibt Landstriche, in denen die nächste Praxis für Kinderpsychotherapie 200 Kilometer entfernt ist. Der Zugang zu solchen Therapien musste dringend verbessert werden. Umgekehrt haben wir hierzulande die luxuriöse Situation, dass Psychotherapien von den Krankenkassen bezahlt werden – im Unterschied zu vielen anderen Ländern.
Wie schon erwähnt, haben Sie während der Pandemie ein Hilfsprogramm inklusive wissenschaftlicher Begleitung initiiert. Was erhoffen Sie sich davon?
Mit unserer Studie wollen wir herausfinden, wie es den Menschen langfristig nach der Pandemie geht. Daraus können wir hoffentlich Ruckschlüsse ziehen, wer in solchen Situationen welche Art von Hilfe benötigt und wer besonders belastet ist. Und das wiederum konnte dann helfen, bestimmte Risikogruppen künftig besonders gezielt und frühzeitig anzusprechen, damit es ihnen gar nicht erst schlecht geht. Das wäre besser, als Hilfsangebote nach dem Gieskannenprinzip zu verteilen.
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